Der Anfang und das Ende aller Kunst

Marcel Broodthaers, Fridericianum, 17. Juli – 11. Oktober 2015
Auf ihrem halbrunden Fototeppich hatte Goshka Macuga zur dOCUMENTA (13) eine Szenerie arrangiert, die eine fast unüberschaubare Gruppe von Menschen vor einer spektakulären afghanischen Kulisse zeigte. Die polnische Künstlerin hatte in das Panoramabild kleine Elemente eingefügt, die als Fremdkörper kaum auffielen, die Szenerie aber rätselhaft machten. Dazu gehörten eine altertümliche Kanone und im Zentrum des Bildes eine Schlange, die ihren Kopf hochgestreckt hatte und wie eine Skulptur wirkte.
Die Schlange und die Kanone hatte Goshka Macuga bei der Durchsicht der Fotos aller documenta-Arbeiten, die seit 1955 in der Rotunde des Fridericianums installiert worden waren, entdeckt. Sie waren Teil der Inszenierung, mit der 1982 die documenta 7 den Belgier Marcel Broodthaers ehren (1924-1976) wollte. Goshka Macuga lieh sich die beiden Motive aus, um sie auf ihrem Fototeppich zu zitieren. Marcel Broodthaers hätte an dieser Wiederverwertung seine Freude gefunden, weil die Transformation der von ihm gestalteten Elemente genau dem Denken entsprach, dem er sich verschrieben hatte: Die Schlange und die Kanone sind als Bedrohungen zu verstehen und reduzieren sich doch auf die bloße Form, aufs Dekor, wie etwa die leeren Muschel- oder Eierschalen.
Überraschend daran war, wie frisch und unverbraucht auch noch vier Jahrzehnte später die bei Broodthaers entliehenen Zitate wirkten. Ja, alles das, was der Belgier zur Klärung der Kunst und der Wirklichkeit schuf, ist heute gut vorstellbar als ein umfassender Beitrag zur virtuellen Welt. Broodthaers‘ Denken war so prinzipiell und so radikal, dass wir heute davon profitieren können. Insofern war es für Susanne Pfeffer naheliegend, zum 60. Geburtstag der documenta eine Broodthaers-Werkschau zu organisieren – nicht als historischen Rückblick für einen Künstler, der viermal an der documenta beteiligt war, sondern als Neuentdeckung eines künstlerischen Werkes, dessen Aktualität noch nicht richtig begriffen ist und dessen hintergründiger Humor eine stete Freude ist.
Als Susanne Pfeffer vor einiger Zeit eine Retrospektive des Werkes von Paul Sharits organisierte, zog sie indirekt eine Spur zu Broodthaers, denn beide, Sharits und Broodthaers, experimentierten etwa zur gleichen Zeit mit dem Film, zerlegten Bilder und erschütterten unsere Strukturen und Hierarchien unserer Bildvorstellungen und Begriffe.
Wahrscheinlich wäre der künstlerische Weg von Broodthaers anders verlaufen, hätte er sich nicht zehn Jahre lang bemüht, als Dichter und Poet zu leben. Er hatte auf diesem Feld nur begrenzt Glück, aber als außerordentlich wichtiges Kapital brachte er aus dieser Zeit seinen Sinn für Poesie, für poetische Stimmungen und für Wörter und Begriffe mit. Die wohl wichtigste Erfahrung dabei war, dass für ihn Bild und Wort, Gegenstand und Begriff, gleichbedeutend, aber nicht deckungsgleich waren.
Die Begriffe, so lernen wir, tragen in sich die Bilder, auch wenn wir meinen, die Erscheinungen, Formen und Gegenständen seien vor den Begriffen da gewesen. Wegweisend in dieser Beziehung ist der „Salle Blanche“ (Weißer Raum), den Broodthaers 1975 schuf: Er ließ sich aus hellem Holz seinen Brüsseler Wohn- und Arbeitsraum nachbauen und beschrieb in tadelloser geschwungener Schrift die Wände mit Begriffen wie Komposition, Galerie, Thema, Kopie, Figur und Privileg.
Mit diesen Begriffen umschrieb Broodthaers unsere Welt und half uns, den Anfang und das Ende aller Kunst zu verstehen. Denn beim Verlassen dieses Raumes konnte man denken, von der Kunst sei nichts geblieben als eine Abfolge von Worthülsen. Andererseits konnte man sich vorstellen, wir als Besucher seien aufgefordert, die Begriffe mit den ihnen zugeordneten Bildern zu füllen. Wenn uns das gelänge, würden wir in der Woge der Bilder ertrinken.
Marcel Broodthaers lehrt uns, genau hinzuschauen. Denn wenn wir die beiden Tafeln mit den Überschriften „Gedicht – Poem – Poème“ und „Change – Exchange – Wechsel“ sehen, dann lassen wir uns in die Irre führen, sofern wir nicht nahe herantreten und feststellen, dass in allen Spalten nur die handgeschriebenen Initialen (M.B.) geschrieben sind. Der Künstler entzog sich der Kunst, um sich und sein Werk auf die Signatur zu reduzieren. Doch indem diese Tafeln in die Ausstellung aufgenommen wurden, verwandelten sie sich in komplexe Kunstwerke von höchster Spannung.
Wenn man es genau nimmt, erteilte Broodthaers jeder Art von Kunst eine Absage. Denn ganz am Anfang (1968) hatte er Kunsttransportkisten mit den üblichen Aufdrucken wie „zerbrechlich“, „trocken aufbewahren“ oder „Gemälde“ in seiner Wohnung aufgestellt und damit die Basis für sein fiktives „Musée d’Art Moderne“. Die Kisten waren leer, also inhaltslos. Lediglich Postkarten mit Gemäldemotiven aus dem 19. Jahrhundertwaren auf einer Wand zu sehen. Dahinter verbarg sich die Kritik an der Kunst-Präsentation, die das 19. Jahrhundert bevorzugte und das Gegenwärtige überging.
Die Ausstellung im Fridericianum lebt erst einmal aus ihrer feierlichen Inszenierung. Wesentliche Stationen werden durch aufgestellte Palmen in Kübeln zu Ruheräumen oder Promenaden. Die Pflanzen vermitteln Arglosigkeit. Alles wird gefällig. Und doch täuscht das Bild, denn unübersehbar, sind in der Installation die Gewehre und Kanonen.
Das Zentrum der Ausstellung bildet jener kleiner schwarzen Raum, den Broodthaers für die documenta 5 hatte bauen lassen und der in seiner speziellen Art in der Abteilung „Museen von Künstlern“ unterging. Broodthaers hatte sein 1968 begonnenes Projekt zu einem „Musée d’Art Moderne – Departement des Aigles“ (Museum für moderne Kunst – Abteilung Adler) 1972 abgeschlossen. Das, was in der documenta zu sehen war, verstand sich als die Werbung für die parallel in der Düsseldorfer Kunsthalle laufende Ausstellung, in der aus Adler-Bildern und –Objekten ein richtiges Museum aufgebaut worden war.
Marcel Broodthaers, der sehr stark durch die Surrealisten geprägt war, war ein Gefolgsmann von René Magritte, der 1929 unter das Bild einer Pfeife geschrieben hatte „Dies ist keine Pfeife“. Broodthaers nun beschilderte in seiner Düsseldorfer Ausstellung dementsprechend jedes Objekt mit dem Hinweis „Dies ist kein Kunstwerk“ – ob es nun ein Kunstwerk war wie Gerhard Richters Adlerbild oder ob es zur Abteilung Kitsch gehörte. In dem Kasseler documenta-Raum nahm Broodthaers sein Spiel mit der Begrifflichkeit auf und ordnete alle Bilder der Werbung zu. So schloss sich der Kreis.
Nachdem Catherin David den schwarzen Raum 1997 in ihre documenta geholt hatte, ist er nun in dieser Retrospektive ein drittes Mal in Kassel zu Gast. Er ist nicht nur das Herzstück der Ausstellung, sondern des gesamten Werkes von Broodthaers.

Schreibe einen Kommentar