Menschenbilder

Ausstellung Christine Reinckens im Verwaltungsgerichtshof 23. 9. 2015
Christine Reinckens ist eine außerordentliche Zeichnerin und Malerin. Sie braucht mit ihren Bildern ihr Können nicht unter Beweis zu stellen. Dass sie über ihre Meisterschaft verfügt, kann sie als bekannt voraussetzen. Also kann sie mit ihren bildnerischen Mitteln nach Belieben spielen, um immer neue Möglichkeiten des Gestaltens vorzuführen. Das deutet sich bereits im Ausstellungstitel „Von Kopf bis Fuß“ an, denn gezeigt werden Menschenbilder jeder Art: Kopfbilder, also Porträts, einzeln und in Serien, Menschengruppen, die in Reihen nebeneinander stehen und sitzen, Beine, die in die Bilder baumeln, die aneinander vorbei laufen oder die fest auf dem Boden stehen. Immer hat man die Menschen ganz vor Augen, auch wenn wir nur Teile von ihnen sehen – die Füße, die Körper oder Gesichter im Halbprofil.
Wir begreifen die Gemälde und Zeichnungen von Christine Reinckens als realistische Werke. Sie sind in der Tat aus der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entstanden. Die Künstlerin hat die Falten in den Hemden und Pullovern, die Körperhaltungen und die Gesichtszüge aufs Sorgfältigste studiert und ausprobiert, wie sie durch kleine Eingriffe und behutsame Wendungen die Körpersprache ändern und Mimik in Nuancen variieren kann.
Aber Christine Reinckens löst meist die Köpfe, Körper und Beine aus ihrem Wirklichkeitszusammenhang heraus und verpflanzt sie in künstliche Räume, die zuweilen an Theaterbühnen denken lassen. Die Figuren werden in eine andere Wirklichkeit gehoben. In ihr herrscht eine im Spiel gefundene Ordnung. Insbesondere in den Bildern, in denen die Künstlerin uns Reihungen vorsetzt, nehmen die Figuren eigenwillige Beziehungen auf. Mal scheinen sie einander nicht zu beachten, dann wieder bilden sie kleine Gruppen und Gemeinschaften, die durch Zuwendung oder Abwendung Kraftfelder entstehen lassen und vor allem für Bewegung sorgen.
Nehmen wir das Gemälde „Schöne Aussichten“ als Beispiel. Ja, einige der Menschen, die da als Rückenfiguren vor einer halbhohen Mauer stehen, erwecken den Eindruck, als hätten sie etwas Besonderes zu beobachten. Die Frau, die ganz links steht, gibt mit ihrer hoch ausgestreckten Hand die Blickrichtung vor. Die drei nächsten Personen folgen ihrem Fingerzeig. Aber damit endet schon die enge Gefolgschaft. Die Frau in dem weißen Unterkleid und der alle überragende Mann blicken eher fragend zurück zu der Frau, die ganz außen steht. Das junge Paar rechts außen hingegen ist wohl eher mit sich selbst beschäftigt. Obwohl der Mann sich abwendet und damit seine Rolle als Rückenfigur verlässt und die Frau neben ihm amüsiert die Reihe betrachtet, haben sie für die Szenerie eine tragende Rolle. Es sind nämlich die beiden jeweils außen stehenden Frauen, die der Komposition Halt geben, die, auch wenn es sich um eine Linie handelt, einen imaginären Kreis schließen.
Die Frau in dem weißen Unterkleid bildet die zentrale Achse des Gemäldes: Rechts und links von ihr stehen jeweils fünf Personen, die man gut in Zweier- und Dreiergruppen aufteilen kann. Aus diesen Gruppen heraus wiederum ergeben sich zahlreiche, auch sich überschneidende Körper- und Blickbeziehungen, so dass wir nicht nur die verschiedenen Aspekte der Gestalten, Haltungen sowie Profile studieren können, sondern auch von der dadurch entstandenen Bewegung erfasst werden.
„Schöne Aussichten“ heißt das Gemälde. Der Titel ist auch ironisch zu verstehen. Der Junge, der sich als einziger aus der Reihe seinen Kopf umwendet, um mit uns, den Betrachtern, Blickkontakt aufzunehmen, scheint uns auf die Widersprüchlichkeit aufmerksam zu machen – dass neben ihm wie selbstverständlich eine Nackte steht. Es gibt hier noch ein anderes Gemälde mit einer vergleichbaren Konstellation. In diesem anderen Bild aber wird diese leicht provozierende Reihung dadurch zugespitzt, dass unmittelbar neben der nackten Frau zwei komplett verhüllte Gestalten stehen, die mit ihren faltenreichen Gewändern in den süßlichen Pastellfarben nachhaltiger die Aufmerksamkeit auf sich lenken.
In die Serie der Bilder von Wartenden gehört das Gemälde („Tafelbild“), das acht Mädchen an einem langen Tisch zeigt. Sie sind gekommen, um etwas zu hören, aber nun sind sie skeptisch bis ratlos, was sie denn erwartet. Das Gemälde passt in diese Zeit, in der wir auf der Suche nach Antworten darauf sind, wie wir nachhaltig auf die Flüchtlingsströme reagieren. Auch diese Mädchen stammen zum überwiegenden Teil aus anderen Kulturen. Nun sind sie beisammen und haben, wie es scheint, keine großen Erwartungen. Besonders abweisend wirkt das Mädchen, das ganz links sitzt. Es entfernt sich förmlich aus der Gruppe. Es könnte sich uns unmittelbar mitteilen, da es zu uns, den Betrachtern, schaut, aber dem entzieht es sich.
Das dritte Mädchen von links wendet seinen Blick uns zu, schaut aber dennoch an uns vorbei. Nicht viel anders das Mädchen, das rechts ganz außen sitzt. Je länger man sich in diese kleinen Persönlichkeiten versenkt und ihre Haltungen und ihren Ausdruck betrachtet, desto klarer wird, dass es nicht leicht ist, hier in Kontakt zu kommen. Das Gemälde gliedert sich klar in vier Zweiergruppen. Und fasziniert beobachten wir, wie es der Künstlerin gelingt, in diesem Bild acht Charaktere herauszubilden, die bei aller Kindlichkeit überraschend abgeklärt und erwachsen wirken.
Christine Reinckens ist Zeichnerin und Malerin. Zeichnend bereitet sie in Skizzen und Studien sowie kleinformatigen Bildern ihre großen Gemälde vor. Diese Ausstellung bietet Ihnen die Möglichkeit, der Künstlerin über die Schulter zu schauen und an einem Teil des Schaffungsprozesses teilzunehmen. Im Treppenhaus sehen Sie eine Tafel, auf der zehn schmale Bilder befestigt sind. Es handelt sich um Studien in Tusche, die mit Klarlack und Pigmenten überzogen sind. Wenn Sie diese Studien genauer anschauen, werden Sie feststellen, dass nicht nur einzelne Figuren, sondern ganze Gruppen in die Großformate übernommen worden sind. Hier und da werden einzelne Personen ausgetauscht, wird die Haltung korrigiert oder die Mimik der Halb- und Viertelprofile geändert. Mich überrascht immer wieder, wie klar und präzise in diesen Studien die Bewegung, Haltung und der ganze Körperausdruck fixiert ist. Im Grunde sind die Studien für uns als Außenstehende schon fertige Bilder.
Einen besonderen Reiz erhält die Tafel durch die beiden oberen Bilder, die wie ein antiker Fries wirken. Sie sorgen für eine prickelnde Spannung zwischen den stehenden und schauenden Figuren, sowie den Beinen, die mit schnellem Schritt unterwegs sind. Zugespitzt wird die Spannung auf der Tafel mit den Bildbändern dadurch, dass die Beine über den Köpfen der Wartenden unterwegs sind. Auf diese spielerische Umkehrung verfiel Christine Reinckens, als sie am Strand lag und fasziniert registrierte, dass sie die Menschen förmlich über sich vorbeilaufen sah. So entstand die Idee, sich auf einem Fries auf die Bewegung der Beine zu konzentrieren. Meisterhaft hat sie hier das Tempo und die unterschiedlichen Gangarten festgehalten.
Im Treppenhaus und vor den Fenstern sehen Sie zwei Variationen eines Motivs, eine Schwarz-weiße und eine farbige Fassung einer vermeintlich vierköpfigen Familie. Das farbige Bild erscheint uns fertig, während der Schwarz-weiß-Version offenbar die vollendende Farbe fehlt. Doch der Eindruck täuscht, denn das von Grautönen beherrschte Bild ist ebenfalls fertig. Beide Gemälde setzen – bei aller Übereinstimmung der Kompositionen – unterschiedliche Akzente.
Beide Personengruppen wirken so, als stammten sie aus der Werbewelt, um die Botschaft einer glücklichen Familie zu verkünden. Insbesondere die rechts stehende Frau entspricht in ihrer abgewandten Haltung und ihrem strahlenden Optimismus dem perfekten Klischee einer heilen Welt. Dabei steckt in dieser übertriebenen Art bereits die Ahnung einer Katastrophe. Gern möchte man wissen, worüber sich der Vater und der ältere Sohn, die die Mittelgruppe bilden, verständigen. Doch der Bruch der heilen Welt kündigt sich an, wenn man auf den kleineren Jungen schaut, der in der schwarz-weißen Fassung ernst und konzentriert zur Seite blickt, in der farbigen Version jedoch missmutig erscheint. Seine Haltung und sein Blick zerstören die Fassade der heiteren Welt. Und wenn man einmal diese Entwicklung erkannt hat, entdeckt man immer mehr Feinheiten, durch die sich die beiden Bilder unterscheiden.
Ich spreche hier immer von schwarz-weißen Fassungen. Das ist insofern nicht korrekt, weil Christine Reinckens großen Wert darauf legt, dass sie in ihren Kompositionen kein Schwarz benutzt. Sie mischt die Schwarz-Töne aus anderen Farben. Dadurch gewinnen auch die dunklen Zonen Transparenz und malerischen Glanz, in dem man immer andere Farbtöne aufspüren kann.
Es lohnt sich, beim Rundgang sich einmal ganz auf den Einsatz der Farben zu konzentrieren. Dabei denke ich nicht nur an den Wechsel von farbigen Gemälden und den Bildern in Grautönen, sondern beispielsweise auch an die größeren Porträts, die Sie unter anderem im Hauptraum finden. Diese Porträts sind voller Dynamik, weil die Malerin den Bildern ihre perfekte Glätte nimmt und ihnen etwas von der Skizzenhaftigkeit lässt. Auf diese Weise erscheinen die Bilder offen und in gewisser Weise vorläufig. Dann wieder ist man fasziniert von dem farblichen Zusammenklang des Hintergrundes und der porträtierten Personen beziehungsweise ihrer Kleidung.
Es gibt kaum ein Motiv, mit dem sich Christine Reinckens nicht malerisch auseinandergesetzt hätte: Seile und Steine, Kirschen und Haushaltsgeräte, Schuhe und Zettel, Stillleben also. Daneben hat sie sich Landschaften gewidmet, Strand und Watt. Aber immer wieder hat sie sich auf den Menschen konzentriert, mal wie in den Stillleben ordentlich nebeneinander aufgereiht als Typologien stehender und sitzender Figuren, und dann als kleine Gruppen, in denen die Personen durch ihre Haltungen und Blicke Beziehungen aufnehmen, und schließlich die Doppel- und Einzelporträts.
Mit schnellem Blick hat die Künstlerin ihr Gegenüber erfasst, hat sich in Skizzen und Studien den Porträtierten angenähert und hat sich auf die Suche nach dem inneren Ausdruck begeben. Die Augen, die Mundpartien, die Falten und das Mienenspiel hat sie nicht nur als Vorlage für die kompositorische Struktur genommen, sondern als Wegweiser zu den Wesenszügen. Daraus spricht nicht nur malerische Lust, sondern vor allem auch die Liebe zum Menschen und das Gefühl, ein Stück von dieser Zuwendung auch den Betrachtern zu erschließen.
Wenn wir von uns ein Porträtfoto machen lassen, verwerfen wir ganze Reihen von Bildern, weil wir das eine Bild suchen und möglicherweise nicht finden, das viele Aspekte von uns vereint. Wenn Christine Reinckens Mehrfachporträts malt, wählt sie bewusst den umgekehrten Weg: Sie konfrontiert Einzelaspekte der einen Person – wie in dem Gemälde „Kommen und Gehen“, in dem ein und dasselbe Mädchen uns mal eher melancholisch und dann eher kritisch und abwehrend anschaut. Das eine Mädchen steht uns wie zwei Personen gegenüber, unterschiedliche Aspekte offenbarend. Verbunden werden die beiden Figuren durch den Doppelschatten, den der Kopf wirft. Er belebt den Zwischenraum und sorgt für eine weitere Bildebene.
Auf grandiose Art und Weise führt Christine Reinckens in einem Porträtprojekt die verschiedenen Aspekte der Persönlichkeitserfassung vor. Sie hat ihr Modell den Kopf von links nach rechts schwenken lassen und in fünf Ausschnitten das Gesicht erfasst. Man ist doppelt gebannt – zum einen, weil die schmalen Bilder, die aus der Bewegung herausgelöst wurden, wie Filmstreifen erscheinen und zum anderen, weil wir merken, wie wir die Bildausschnitte automatisch vervollkommnen.
Und dann gibt es doch auch das klassische Porträt, das aus der Summe der Studien entstanden ist, das in sich ruht und in lebendiger Form Gertrude Betz als feinfühlige Vermittlerin der Kunst vorstellt. Der Hintergrund bleibt hell und zart, um die Kraft der Farben ganz der Gestalt zu überlassen. Man sieht die Schreibende, Korrigierende und ^1Vortragende vor sich – in ihrer Zurückhaltung und Bescheidenheit. Konzentriert blickt sie über das Manuskript hinaus, um zu prüfen, ob das, was sie geschrieben hat, auch der Wirklichkeit gemäß ist. Und wir als Betrachter werden erfasst von der Bewegung und Kraft, die aus dem Porträt vordringt.

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