Eine Art Kunstverein

Eine Dauerklage der in Kassel und Umgebung lebenden Künstler lautet: Wir haben keinen Raum, in dem wir unsere Arbeiten ausstellen können. In der Tat sieht es in der documenta-Stadt düster aus, weil es außerhalb der sowieso dünn gesäten Galerien keine Institution gibt, die mit einem Qualitätsanspruch regelmäßig regionalen Künstlern Platz für eine Ausstellung bietet. Der Kasseler Kunstverein hatte das über Jahrzehnte geleistet – solange er noch im Kulturhaus am Ständeplatz (heute Stadtmuseum) residierte. Die Neue Galerie machte das phasenweise, und zuletzt hatte die Leiterin der Neuen Galerie, Marianne Heinz, ein Format entwickelte, das es ihr erlaubte, in regelmäßigen Abständen Arbeiten von Künstlern auszustellen, die aus der Kunsthochschule hervorgegangen waren und die es geschafft hatten, sich in gewisser Weise zu etablieren. Immerhin hat die Neue Galerie einen wichtigen Entwicklungssprung gemacht und Wechselausstellungen von Künstlern mit documenta-Bezug arrangiert.

Der Kunstverein hat sich von der Präsentation regionaler Kunst fast vollkommen verabschiedet. Weder gibt es Einzelausstellungen noch Übersichtsschauen, die einen Überblick über die heimische Kunstszene bieten. Übrigens wurde von Anbeginn an im Kunstverein darum gestritten, wie sehr man der heimischen Kunst verpflichtet sei. Allerdings hatten die Vorstände in den 70er bis 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein ausgeglichenes Maß gefunden, nationale und internationale Kunst im Wechsel mit regionale Kunst zu zeigen. Doch das ist lange her.

Nun hatte vor einigen Jahren das KulturNetz eine Gesprächsrunde initiiert, in der sehr sorgfältig diskutiert wurde, wie und wo man ansetzen könne. Wichtig an der Runde war, dass sie die Grenzen aufhob, die verhindert hatten, dass Absolventen der Kunsthochschule, Mitglieder des Bundesverbandes Bildender Künstler und Künstlerinitiativen zusammenarbeiten konnten. Die Gesprächsrunde hatte den Boden vorbereitet, auf dem die Gruppe 387 entstehen konnte.

Wahrscheinlich ist das Wort Gruppe zu stark, weil die beteiligten Künstlerinnen und Künstler völlig eigenständig bleiben und sich nur dann verbünden, wenn sie ihr gemeinsames Ausstellungsprojekt planen. Dann sind sie dabei, auch wenn sie keineswegs immer selbst ausstellen. Sie sind kein Verein, sondern ein Bündnis, das seit 2012 jährlich drei Ausstellungen im Südflügel des Kulturbahnhofs plant. Den Namen für ihre Ausstellungsreihe haben sie in den Abmessungen des Raumes gefunden – 387 Quadratmeter.

Ein paar mobile (und sehr stabil wirkende) Stellwände erlauben sehr abwechslungsreiche Inszenierungen. Auch ist an dem Konzept vielversprechend, dass jeweils für ein Jahr programmatische Titel entwickelt werden. In diesem Jahr lauten die Titel
LINEARITÄT – MATERIALITÄT – IDENTITÄT.

Die Ausstellung Identität wurde gestern eröffnet. Wieder hatte die Eröffnung starken Zulauf und wieder sind einige herausragende Arbeiten zu sehen. Nur zwei Beispiele: Catrine Val, die von der Videokunst und Fotografie herkommt, zeigt einige Beispiele aus ihrer Fotoserie (die auch als Bildband erschienen ist) Feminist . Es handelt sich um grandiose Bilder, die sie in Kassel inszeniert hat und in denen sie sich in extremen Situationen präsentiert. Die Lust (und Last) der Frauen, sich mit der Kleidung kostümieren und für ihre Auftritte schminken zu müssen, spitzt sie zu Maskerade zu und schlüpft in Dutzende von Rollen und Haltungen. Sie verliert ihre Identität, indem sie sich immer neue Identitäten aneignet.

Genauso brillant ist die Gemeinschaftsarbeit von Anja Köhne und Melanie Vogel. Sie haben sich gleich frisiert und gekleidet, so dass sie – bei aller Unterschiedlichkeit – sich ähnlich sehen. Aber in ihrer Porträtserie gelingt es ihnen, ihre eigenen Bilder so zu verschmelzen, dass Ihre Identitäten in einander übergehen und sie zu einer dritten Person werden. Wohl glaubt man, in dem einen oder anderen Porträt eher eine von beiden hervortreten zu sehen. Doch je länger man die Bilder studiert, desto ratloser wird man.

Nicht alle Beiträge zu der Ausstellung sind so zwingend. Aber der Gesamteindruck der Ausstellung ist so überzeugend, dass man das Gefühl hat, hier ist ein Projekt entstanden, das dauerhaft bleiben sollte. Hier wird genau das geleistet, was mann unter anderem von einem Kunstverein erwartet. Ja, das ist eine Art Kunstverein – auch wenn die strukturellen Bedingungen völlig anders aussehen.

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