Streit um Wände und Bilder

Gerhard Richter hängte ab – Klaus Honnef und Evelyn Weiss erklärten Rücktritt

Es sollte ein Paukenschlag sein, noch lauter als der, den Wieland Schmied und Prof. Herzog wegen des Zustandes der Orangerie hatten ertönen lassen: Evelyn Weiss und Klaus Honnef, verantwortlich für die Abteilungen Malerei und Fotografie auf der documenta 6, legten gestern, am Eröffnungstag der 100-Tage-Kunstschau, um 9 Uhr ihre Arbeit nieder. Auf einer eilends am Nachmittag improvisierten Pressekonferenz nannten Evelyn Weiss und Klaus Honnef zwei Gründe: „Eine in der Nacht zum 24. Juni begonnene, von Kunsthändlern erzwungene Umhängeaktion in ihrer Abwesenheit und ohne ihre Kenntnis in der Abteilung Malerei, sowie die Tatsache, daß trotz wiederholter Zusicherungen für mindestens 18 eingeladene Künstler die räumlichen Voraussetzungen zur Ausstellung ihrer Arbeiten in der Neuen Galerie Kassel bis zum Eröffnungstag nicht geschaffen worden sind…“
Die Pressekonferenz, zu der auch Manfred Schneckenburger, der künstlerische Leiter der documenta, hinzukam, wurde genau zu dem Spiegelbild des Chaos, in der sich seit vorgestern nacht die Abteilung Malerei befand oder noch befindet. Am eindeutigsten war für die Journalisten auszumachen, daß die in die Neue Galerie ausgelagerte Unterabteilung künstlerische Fotografie (mit 18 Künstlern) gestern für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war, weil die Räume im Kellergeschoß noch nicht für die Ausstellungssituation hergerichtet waren. Undurchdringlich allerdings wurde das Gestrüpp von Behauptungen, Verdächtigungen und Gegenbehauptungen, als es darum ging, zu klären, was sich seit Donnerstagabend im Museum Fridericianum getan hatte und wer informiert oder verantwortlich war.

Versucht man eine Chronologie herauszudestillieren, ergibt sich folgendes Bild: Nachdem die Ausstellungsleitung dem Wunsch des Malers Louis Cane entsprochen hatte, ihm für sein Bild einen neuen Hängeplatz zu suchen, meldete ein weiterer Maler, Gerhard Richter, Protest gegen die Präsentation seiner Arbeiten an: Er wolle seine Bilder nicht von dem großen Objekt-Bild von Frank Stella erdrücken lassen. Richter verlangte einen bestimmten Platz an dem jedoch andere Bilder hingen, oder drohte mit dem Rückzug aus der Ausstellung. Was danach geschah, kann nur erahnt werden: Schneckenburger wie auch Weiss/Honnef sagten Richter eine Absprache und Lösung des Problems zu, doch warteten die verschiedenen Gesprächspartner vergeblich auf einen gemeinsamen (angeblich verabredeten) Termin.
Tatsache ist, daß Richter bis gestern morgen seine Bilder abnahm und am Vormittag abtransportieren ließ. Gleichzeitig wurden auch andere Künstler und deren Galeristen aktiv. So wurden Warhols Bilder ebenso umgehängt wie Nancy Graves‘ Arbeiten. Die Verantwortlichen wußten von nichts. In ihrer Presseerklärung gingen Evelyn Weiss und Klaus Honnef davon aus, daß Manfred Schneckenburger zumindest den ersten Teil der Nacht- und Nebelaktion inszeniert oder zumindest geschützt habe.
Dieser bestritt das heftig. Nur wurde im Verlaufe der manchmal scharfen Auseinandersetzung der Kontrahenten deutlich, daß genau das zutraf, was Honnef mehrfach in Abrede stellte — daß der Streit um die gestrige Situation schon seit langem vorhandene Fronten sichtbar machte.
Seit Monaten nämlich rangen Weiss/Honnef und Schneckenburger um die PJatzzuweisung für Malerei und Fotografie. Während Weiss/ Honnef behaupten, sie hätten für ihre Abteilungen weniger Platz bekommen, als vereinbart worden sei, und sie hätten deshalb die Malerei um ein Drittel und die Fotografie um ein Fünftel reduzieren und noch aufteilen müssen, vertrat Schneckenburger die Ansicht, das Team habe genau die Raumverhältnisse gekannt, sei nur ins Schleudern geraten, weil es insbesondere in der Fotografie zuviel habe ausstellen wollen. D.S.

HNA 25. 6. 1977

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