Zeugnisse des privaten Mutes

Das Essener Museum Folkwang ist in diesem Sommer eine Pilgerstätte der Kunstfreunde: 120 Spitzenwerke der Moderne aus russischem Besitz sind dort zu sehen.
In den Sälen des Essener Museums Folkwang hängen Schlüsselwerke der Moderne: „Lise mit dem Sonnenschirm von Renoir, Monets „Kathedrale von Rouen im lichten Nebel“, das „Jünglingsbildnis“ und die „Rhonebarken“ von van Gogh, Gauguins „Mädchen mit dem Fächer“, „Der Steinbruch von Bibemus“ von Cezanne und je ein Stilleben von Matisse und Picasso. Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Meisterwerke wurden ursprünglich von dem Sammler Karl Ernst Osthaus in den beiden ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts erworben. Osthaus war in Deutschland einer der wenigen vorausschauenden Sammler, die sich damals für die Werke der heftig befehdeten Moderne stark machten.
Seine Sammlung dokumentiert nicht nur Kennerschaft, sondern bezeugt auch Riskobereitschaft und Mut. In dieser Beziehung glich er den beiden russischen Sammlern Sergej Schtschukin und Iwan Morosow, die zeitgleich mit Osthaus die Werke der französischen Moderne kauften und deren Schätze Osthaus 1913 in Moskau kennenlernte. Osthaus gründete für seine Sammlung in Hagen ein Museum, das später nach Essen wanderte und dessen größte Schätze von den Nazis in alle Winde verstreut wurden. Nur mühsam konnten nach dem Krieg die wichtigsten Werke zurückerworben werden. Die Sammlungen von Schtschukin und Morosow wurden 1918 verstaatlicht, 1928 zusammengeführt und 1948 auf die Museen in Moskau und Leningrad verteilt (und nur teilweise ausgestellt).
Aus der Sammlung Schtschukin: „Spanierin mit Tamburin“ von Matisse 1909 gemalt.
Nun sind die drei Sammlungen in ihren wesentlichen Teilen für einige Monate unter einem Dach vereint. Doch die meisten Besucher, die sich vom frühen Morgen an vor den Bildern und Skulpturen aus russischem Besitz drängen, bekommen diese Dreier-Konstellation kaum mit: Während oben in der teuren und lautstark propagierten Sonderschau bisweilen drangvolle Enge herrscht, verirren sich in die Museumssammlung nur einzelne. Dabei darf man gewiß unterstellen, daß die wenigsten auswärtigen
Besucher die Museumsbestände kennen.
Aber so ist eben unser Kunsttourismus – nur das Sensationelle zählt. Dabei bieten sich nicht nur direkte Bildvergleiche an zwei verschiedene Fassungen von Monets „Kathedrale von Rouen“ -, sondern es wurde auch für das Museum eine Chance vertan, indem nicht alle drei Sammlungen aufeinander bezogen wurden. Also kann man die Besucher nur ermuntern, Pfadfinder zu spielen. Diese Einwände müssen erwähnt werden, bevor man das
von der Ruhrgas weitgehend (vor)finanzierte Projekt lobt. Die Ausstellung leistet drei Dinge: Sie präsentiert Meisterwerke der Moderne in einer Dichte, wie man sie sonst in Deutschland kaum erleben kann; sie macht mit Bildern bekannt, die in unserem Land nur selten und noch nie in dieser Breite gezeigt wurden; und sie rekonstruiert die Pionierleistungen zweier Sammler.

Obwohl Kunsthistoriker die Ausstellung erarbeitet und in einem vorzüglichen Katalog (Paperback, 452 S., 48 Mark) aufbereitet haben – lediglich die Farbreproduktionen sind zu hell und leuchtend -, ist es kein kunsthistorischer Blick, der auf die Kunst der Moderne geworfen wird, sondern der des wagemutigen Liebhabers. Genau darin liegt der große Reiz: Man sieht unter anderem 13 Werke von Cezanne, je zehn von Gauguin und Picasso, zwölf von Matisse, acht von Monet, die allesamt erworben wurden, als nicht absehbar war, daß das die Klassiker von morgen sein würden. Die Matisse-Bilder wurden zum Teil angekauft, bevor sie fertig waren. Zu den Höhepunkten der Meisterschau gehören Monets impressionistischer „Boulevard des Capucines“ sowie die beiden Nebelbilder aus London, die Reihe der Cezanne-Gemälde, die die Entwicklung des Malers dokumentieren, van Goghs „Hofgang der Gefangenen“, die drei Versionen zum „Tanz“ von Matisse sowie sein „Rotes Zimmer“, Picassos Harlekin-Bilder und seine frühkubistischen Gemälde und schließlich die Rekonstruktion des Saales mit den Wandbildern von Maurice Denis („Geschichte der Psyche“).
HNA 24. 7. 1993

Schreibe einen Kommentar