Für drei Monate steht Venedig im Zeichen der Kunst. Die 42. Biennale ist aber weniger denn je in Konkurrenz zur Kasseler documenta zu sehen, die in genau einem Jahr zu besichtigen sein wird. Der Versuch nämlich, das gegenseitige Durchdringen von Kunst und Wissenschaft im Aufblättern der Kunstgeschichte zu dokumentieren, führt zuweilen weit weg von der Gegenwart und lenkt den Blick auch auf ganz abseitige Gefilde von Technik und Kunst. Trotzdem bietet Venedig ein einmalig breites Ausstellungsabenteuer, weil neben der thematischen Schau auch noch die verschiedenen nationalen Beiträge und andere attraktive Sonderausstellungen angeboten werden.
Ein aus der Mode gekommenes deutsches Wort ist in diesem Jahr der Schlüssel zum Zauber der Kunst-Biennale in Venedig: Wunderkammer. In der Barockzeit meinte man damit einen Schaukasten mit seltenen Musikinstrumenten. Der Begriff steht aber auch allgemein für die fürstlichen Kunst- und Raritätenkammern, in denen Schönes, Kostbares und Kurioses gesammelt wurde und aus denen sich im 18. und 19. Jahrhundert die Museen entwickelten. In der Wunderkammer findet sich alles, das perspektivisch ausgeklügelte Galerien-Modell, die spielerisch überdrehte Elfenbeinschnitzerei und die geheimnisvoll erzielte Bildwirkung. Und so ist mit dem BiennaleMotto „Kunst und Wissenschaft“ das ganze Feld der kunstvollen Hervorbringungen umschrieben – Konstruktives, Magisches, Mythisches und Phantastisches. Die bis zum 28. September laufende Biennale in der Lagunenstadt bemüht sich folglich um ein umfassendes Modell des bildlichen Denkens und Schaffens. Damit gibt sie aber auch den Anspruch auf, Wegweiser im Bereich der aktuellen Kunst zu sein.
Die zentrale Ausstellung der Biennale zum Thema „Kunst und Wissenschaft“ besteht aus sieben Abteilungen, die so umfangreich angelegt sind, daß neben dem Hauptgebäude in den Giardini noch weitere, über die Stadt verstreute Standorte einbezogen werden mußten: „Raum“, „Kunst und Alchemie“, „Wunderkammer“, „Kunst und Biologie“, „Farbe“, „Technologie und Information“ sowie „Wissenschaft für die Kunst“. Darüberhinaus gibt es noch die nationalen Beiträge von 41 Ländern zu sehen und die in diesem Jahr geschrumpfte Abteilung für junge Kunst („Aperto“).
Überall, auch in den nationalen Pavillons und in „Aperto“ findet man Arbeiten, die direkt zum Generalthema hinführen. Die dichteste und schönste Abteilung aber birgt die „Wunderkammer“, in der sich Raritäten und Kunstwerke aus mehreren Jahrhunderten begegnen. Dreieck, Quadrat und Kreis, Pyramide, Würfel und Kugel: In allen Zeiten strebten die Wissenschaftler, Baumeister und Künstler danach, die ideale Form zu finden, die die Eckpunkte des Lebens und Glaubens und gleichzeitig der unterschiedlichen geometrischen Modelle in sich vereinigt. Die großen Kuppelbauten sind auf diese Modelle zurückzuführen, aber auch Bildkompositionen. Künstler und Wissenschaftler bemühten sich außerdem, in ihren Entwürfen auf von der Natur vorgegebene Formen einzugehen. Vor allem das Ei, das Sinnbild vom Ursprung des Lebens, beschäftigte die Menschen durch Jahrtausende. In immer neuen Zusammenhängen taucht das Ei bis in die Kunst unserer Tage als Schlüsselform auf: Der Collage-Künstler Jiri Kolar hat ein 85 Zentimeter hohes Ei geschaffen und mit kleinen Bildschnipseln derart umhüllt, daß der Betrachter in einer Flut von Botschaften aus der Welt- und Kunstgeschichte ertrinkt.
Rebecca Horn hingegen läßt ein Ei durch ein spitzes, hin- und herschwingendes Pendel bedrohen. Besonders attraktiv sind jene Vitrinen, in denen in lockerem Wechsel barocke Kabinettstükken des Kunsthandswerks und Erfindungen der Surrealisten zu sehen sind: Ein winziger Teufel im Glas aus dem 17. Jahrhundert findet sich so neben einer Arbeit von Meret Oppenheim, die zwei Stöckelschuhe auf einem Tablett in der Weise serviert hat, daß man glaubt, ein Hähnchen vor sich zu haben.
Von den italienischen Künstlern beherrscht ist jener Teil der Wunderkammer, in der Magisches und Mythisches beschworen werden. Mario Merz, Giuseppe Penone, Gilberto Zorio und Fausto Melotti geben hier den Ton an. Schmerzlich vermißt man jedoch in diesen Räumen Joseph Beuys, der der Kunst den Weg zu den Urkräften gewiesen hatte. Führend sind die Italiener auch in der Hauptabteilung, in der es unter dem Stichwort .Kunst und Alchemie“ etwas
EIN GEMÄLDE von Claude Lyr, das dem zentralen Thema, der Alchemie, in der Tradition der Surrealisten huldigt.
drunter und drüber geht. Überspitzt könnte man sagen, diese Abteilung diene allein dem Zweck, zweit- und drittrangige Surrealisten zu Ehren kommen zu lassen. Tatsächlich erdrükken die Masse und die bisweilen mangelnde Brillanz der Arbeiten die Meisterwerke, die dort auch zu finden sind. Aber nicht nur zum Sondieren braucht der Besucher Zeit und Kraft. Da nämlich die Bilder und Objekte, die die Alchemie zum Thema haben, bunt gemischt sind mit jenen, die mit alchemistischen Mitteln geschaffen sind, bedarf es hier einer ausgiebigen Auseinandersetzung. Ein schöner Bogen läßt sich ziehen von Rene Magrittes Gemälde „Landschaft in Flammen“ (1928), in dem die vier Elemente beschworen werden, zu einer Metallstele von Eric Orr, über die Wasser herunterläuft und aus deren Mitte heraus gleichzeitig Gasflammen züngeln. Bereits vor dem Hauptpavillon symbolisiert eine Riesenplastik die Aktivierung der Urkräfte: Aus einer Stahltonne erhebt sich ein gewaltiger Bronzetorso,der von duftendem Rauch umhüllt ist. „Geburt des Eros“ hat Igor Mitoraj diese Arbeit betitelt.
Die Wendung der Biennale zurück in die Kunstgeschichte wird am stärksten dadurch belegt, daß in der Kuppel der Eingangshalle die historisierenden Deckengemälde von Galileo Chini aus dem Jahre 1909, die seit sechs Jahrzehnten unter einer neutralen Verkleidung verborgen waren, wieder freigelegt wurden. Gewiß ein Zugewinn,“ doch aber auch ein unübersehbares Signal. Sucht sich die Biennale auf Dauer im Kunstbetrieb eine neue Rolle, zumal die Reihe der großen internationalen Ausstellungen andernorts immer länger wird? Auch in Venedig selbst ist der Biennale eine Konkurrenz herangewachsen. Der von Fiat übernommene und restaurierte Palazzo Grassi trumpft gleich mit seiner ersten Ausstellung groß auf. Was hier zum Thema „Futurismus“ zusammengetragen wurden, überstrahlt in seiner Qualität und Dichte bei weitem die zentrale Biennale-Ausstellung. (Auf die „Futurismus“Schau wird noch später einzugehen sein.) Am meisten enttäuschen jene Teile der Biennale, die mit der technischen und elektronischen Projektion und Reproduktion von Farbprogrammen und Raummodellen spielen. Das technische Wunderwerk, das für Planer und Konstrukteure hilfreich sein mag, besitzt nur eine oberflächliche Faszination, weil die Künstler und Baumeister der letzten Jahrhunderte schon viel raffinierter die Formen fanden, die nun Zeichenmaschinen und Computer nachvollziehen. Der hiesige Kunstbetrieb erlebt derzeit einen Streit zwischen Malerei und Skulptur um die Vorrangstellung. Und alles spricht dafür, daß ml auch mit Blick auf die nächste documenta – dieser Streit zugunsten der Skulptur, der raumbezogenen Kunst, entschieden“ wird. Ein klares Signal in diesem Sinne geben auch die Maler Mimmo Paladino und Keith Hearing: Paladino stellte eine Bronzehalbfigur vor eine Wand, auf der rote Bildsegmente zu plastischen, runenhaften Zeichen geordnet sind; und von Hearing sieht man eine Figur und eine Vase, die auf die Antike anspielen und bemalt sind mit seinen unverkennbaren Strichmännchen.
Skulpturen der Jungen
Ansonsten öffnet sich die Biennale nur in einer Hinsicht stärker der Skulptur als in frühreren Jahren: Auf der Uferpromenade zu den Giardini weisen die Freiplastiken junger Künstler den Weg ins Ausstellungsgelände.
HNA 5. 7. 1986