Ein Blick in die Werkstatt

Wenig bekannte Zeichnungen und Aquarelle von Otto Dix (1891-1969) präsentiert eine Ausstellung im Erfurter Angermuseum. Die Bilder kommen aus amerikanischem Privatbesitz.
Auch nach dem 100. Geburtstag von Otto Dix, der im letzten Jahr mit mehreren großen Ausstellungen gefeiert wurde, ist der Streit um die Einvernahme dieses kritischen Realisten noch nicht beigelegt. War der Maler, der als Freiwilliger die Schrecken des Ersten Weltkrieges erlebte, zum Ankläger und Pazifisten geworden, oder war er bloß von der sinnlichen Lust an allen Erscheinungsformen des Lebens gepackt? Der Streit strahlt bis in den Katalog der Erfurter Dix-Ausstellung (144 S., 35 Mark) aus: Serge Sabarsky und Andre Schübart haben ihre einführenden Texte als Verteidigungsschriften für den Künstler angelegt, der nichts anderes im Sinn hatte, als das darzustellen, was er sah.

Dix selbst hat verschiedentlich in diesem Sinne Position bezogen. Er wollte nicht als ein Propagandist verstanden werden, der Gedanken oder Meinungen illustrierte. Ihm ging es um die Wirklichkeit selbst und deren Widersprüchlichkeiten. Trotzdem gehören seine Bilder, allem voran die 50 Blatt umfassende Radierfolge „Der Krieg“, zu den nachhaltigsten Anklagen des kriegerischen Unwesens. Einige Arbeiten aus der Serie sind mit den Bildern in eine Reihe zu stellen, die Goya einst zu den „Schrecken des Krieges“ schuf.

Diese „Kriegs“-Grafik ist weitgehend bekannt. So bilden die Blätter aus dieser Serie, die in Erfurt zu sehen sind, auch vornehmlich den Hintergrund, vor dem man das grafische Werk betrachten muß. Im Zentrum der Ausstellung hingegen stehen weitgehend unbekannte Blätter, die in verschiedenen amerikanischen Privatsammlungen verborgen sind. Sie dokumentieren die frühen Jahre im Schaffen von Dix – von 1910 bis um 1930. Ganz abgesehen davon, daß
die Zeichnungen und Aquarelle – häufig Studien, die um Umkreis von Gemälden entstanden – sonst schwer zugänglich sind, öffnet die Ausstellung einen neuen Zugang zu dem aus Gera stammenden Künstler. Zum einen erfährt man eine Menge über seine künstlerische Entwicklung: In seinen Zeichnungen von 1915 („Reiterin mit Fahne“, „David und Goliath“) ist der Künstler noch ganz ein Parteigänger der Expressionisten, der aus kurzen, harten Strichen kantige und überdehnte Figuren aufs Blatt bringt. Zwei Jahre später schon arbeitet er unter dem Einfluß der Futuristen und Kubisten seine Motive ästhetisch zergliedernd. Endlich aber besinnt er sich auf die Vorbilder der alten Meister und findet in der realistischen Bildsprache zu sich selbst. Die Zeichnungen und Aquarelle beweisen, daß Dix alle Spielarten des Realismus beherrschte. In der schnellen Studie wechselte er souverän die Stilmittel und Ausdrucksweisen. Während in seinen in klassischer Lasurtedhnik geschaffenen Gemälden der Prozeß der Malerei verborgen bleibt, lassen die in Erfurt gezeigten Papierarbeiten Einblikke in die Arbeitstechnik von Dix zu: Nur wenige Blätter sind rein malerisch angelegt, in vielen dominiert der Zeichenstift, der mal strichelnd über das Papier fährt und dann wieder aus einer leicht und sicher geführten Linie eine Figur entstehen läßt.

Im Angermuseum sieht man eine große Zahl ausdrucksstarker und sehr gegensätzlicher Frauenporträts, bedrückende Kriegsbilder, Zirkus- und Artistenszenen und Akt- und Hurenbilder. Tod und Liebe, Leid und Lust lagen für den Zeichner und Maler ganz dicht beieinander. Er suchte nicht die schönen und nicht die schrecklichen Seiten, vielmehr notierte er alles, was seine Sinne berührte. Ein Maler des ganzen Lebens – die Ausstellung belegt es. Dirk Schwarze
Otto Dix – Die frühen Jahre, Angermuseum, Erfurt, Am Anger 18, bis 31. Januar, Di.-So. 10-17 Uhr, Mi. bis 20 Uhr.
Der Kirche laufen die Priester weg Friedrichs „Waldinneres“ nach Berlin

11. 12. 1992

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