Suche nach dem Gegenbild

Vor genau zwei Jahren waren die beiden Teile Berlins für einige Tage über die Mauer hinweg künstlerisch und geistig eng verbunden. Während im Westberliner Gropius-Bau die erste umfassende Werkschau von Joseph Beuys nach seinem Tode gezeigt wurde, war gleichzeitig im Ostteil der Stadt eine Ausstellung von frühen BeuysZeichnungen zu sehen. Joseph Beuys aber war es nicht nur um Bilder und Skulpturen gegangen, sondern um Ideen, Kraftströme und Veränderungen, die über den Kunstbereich in die Gesellschaft wirken. Eine dieser übergreifenden Ideen zielte auf das Modell einer direkten Demokratie (durch Volksabstimmung).

Im „Omnibus für direkte Demokratie in Deutschland“ hat diese Idee Gestalt gefunden. So war es ganz im Sinne von Beuys, daß Ende Februar 1988 seine Freunde versuchten, mit Hilfe des Busses die beiden Ausstellungen innerhalb der geteilten Stadt zu verbinden und damit auf seinen erweiterten Kunstbegriff zu verweisen. Der Bus erreichte Ost-Berlin nicht, weil die DDR-Behörden ihn nicht passieren ließen. Immerhin kam er bis in eine Mauerdurchfahrt. Von dieser Situation ist ein Foto geblieben, das den Bus wie eingemauert zwischen den beiden Systemen zeigt. Der Beuys-Schüler Felix Droese, der im selben Jahr die Bundesrepublik auf der Biennale in Venedig vertrat, verarbeitete das Foto und bedruckte einen Viererblock dieses Fotos mit einer massiven, annähernd ovalen Baumscheibe mit zwei eng beieinander liegenden Löchern im Kern: Der Titel der Arbeit, „Der doppelte Mittelpunkt“, war damit gegeben; er mochte auch als Sinnbild für die Aktion im geteilten Berlin oder das Werk von Beuys gelten. Die Punkte zu verschmelzen, erschien ebenso unmöglich wie die Quadratur des Kreises: Kreis und Quadrat, die Droese in die Baumscheibe eingrub, überlappen sich zwar, sind aber nicht genau zur Deckung zur bringen.

Die Arbeit schien erst einmal abgeschlossen. Aber plötzlich geriet alles in Bewegung: die dramatische Fluchtbewegung aus der DDR, die Demonstrationen,..die Wende und schließlich die Öffnung der Mauer. Droese sammelte alle möglichen Zeitungen mit den Berichten und Bildern von diesen historischen Ereignissen wie Tagebuchseiten und bedruckte sie mit seinem Baumstempel. Wie der Schatten eines Kopfes oder ein riesiger Daumenabdruck nahm das Stempelbild die Zeitungsseiten in Beschlag und holte mit dem Bild des „doppelten Mittelpunktes“ immer wieder die Erinnerung an die unüberwindliche Trennung und an die Beuys-Aktion zurück. Aber Droese bedruckte nicht nur Zeitungsseiten mit Meldungen über die DDR-Umwälzung, sondern auch Seiten mit Berichten über Gentechnik, Rüstungskonzerne und die beabsichtige Fusion von Daimler-Benz und MBB sowie Stadtpläne, auf denen Rüstungsbetriebe eingezeichnet sind.

78 Holz- und Siebdrucke entstanden auf diese Weise. Je weiter Droese diese Arbeit trieb, desto klarer wurde, wie unmittelbar er unsere Zeitgenossenschaft sieht und wie zwangsläufig für ihn der Entwurf eines Gegenbildes ist. Dieses Gegenbild existiert nun als farbiger Schatten, als der Holzdruck mit dem doppelten Mittelpunkt. Erstmals und vielleicht ausschließlich in geschlossener Form sind diese faszinierenden Drucke bis zum 14; April in der kleinen Kasseler Galerie Siegfried Sander zu sehen. Die Zeitungseiten fügen sich auf den Wänden zu großen grafischen Gebilden zusammen, in denen die Holzdrucke wie eine riesige Notation erscheinen. Doch die Fernwirkung spielt eine untergeordnete Rolle. Zur Ausstellung ist ein kleiner Katalog erschienen. Heute wird von der Galerie aus der „Bus für direkte Demokratie in Deutschland“, der 1988 nicht nach Ostberlin durfte, über Eisenach vier Wochen durch die DDR fahren. Jetzt schließt sich wirklich der Kreis.
24. 2. 1990

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