Visionen einer gefrorenen Welt

Der belgische Maler Paul Delvaux, einer der letzten großen Vertreter des Surrealismus, ist am Mittwoch 96jährig im belgischen Furnes gestorben. Internationale Bekanntheit erlangte der Maler erst in den 60ern.

Neben dem Spanier Salvador Dali zählte der Belgier Paul Delvaux zu den letzten großen lebenden Surrealisten. Er starb gestern mit 96 Jahren. Der Maler Delvaux fand erst auf langen Umwegen zu seinem Stil. Seine frühen, weitgehend expressionistischen Bilder hat er zum großen Teil vernichtet. Erst in den 30er Jahren fand er Kontakt zu den Surrealisten und entdeckte hier sein Ausdrucksfeld: Alltägliche Situationen lösten in ihm Bilder einer inneren Welt aus, Visionen einer gefrorenen Welt, in der alle Beziehungen erstarrt sind. Die Menschen, meist nackte Frauen, gehen traumwandlerisch aneinander vorbei. Diese nackten Schönen sind den Blicken der Betrachter ausgeliefert; da sie aber kalt und isoliert wirken, ist die Erotik eingefroren. Die Menschen sind hineingestellt in weite, streng perspektivisch angelegte architektonische Landschaften, die viele Kulturen und Stile zitieren. Antike Säulen und Eisenbahnen, endlose Gärten und Paläste verbinden sich zu klaren, sehr plastisch gestaffelten Räumen, die das Gefühl der Verlorenheit verstärken.

Während die Kompositionen von Delvaux in den frühen Surrealisten-Jahren noch wucherten, sind die späteren Arbeiten kalt und karg angelegt. Alles Blut scheint aus den Wesen gewichen zu sein. Die Eisenbahnen und Straßenbahnen, die in zahlreichen von Delvaux‘ Kompositionen erscheinen, stehen ebenso für die den Maler faszinierende Technik wie für das Reisen: Wegfahren, unterwegs sein, Erwartungen haben, Hoffnungen entwickeln. Die Menschen in den Bildern jedoch scheinen nichts davon zu wissen.

Sie stehen da und gehen umher wie Wartende, für die es weder Ankunft noch Abreise gibt. Internationale Bekanntheit erlangte der Maler erst in den 60er Jahren mit Ausstellungen in Europa, Japan, den USA, Kanada und Lateinamerika. Zu seinen bedeutendsten Bildern gehören „Die schlafende Venus“ (1933), „Frau mit Rose“ (1936), „Frau im Spiegel“ (1936), „Die Astronomen“ (1961), „Das Spitzener Museum“ (1942), „Die braven Jungfrauen“ (1965), „Abendzüge“ (1957) und „Die Mädchen von Tongeren“ (1962). 1980 wurde zu seinen Ehren die Stiftung Paul Delvaux mit einem eigenen Museum in Saint-Idelbald gegründet. Der neben Magritte bekannteste zeitgenössische belgische Künstler stand für ein Lebensideal aus Stille, Ruhe, schöpferischer Muße und Dekor. In den letzten Lebensjahren konnte Delvaux nicht mehr malen. Es blieben ihm nur noch einfache Schwarzweiß-Zeichnungen: „Mein Augenlicht erlaubt mir keine großen Kompositionen mehr“.

21. 7. 1994

Schreibe einen Kommentar