Marcel Duchamp wäre 100
Kein anderer Künstler dieses Jahrhunderts hat das Kunstschaffen und das Denken über Kunst so radikal verändert wie der Franzose Marcel Duchamp, der heute vor 100 Jahren geboren wurde und 1968 starb. Noch immer wirkt er wie ein Pionier. Sein Landsmann Ange Leccia, der die Besucher der documenta 8 dadurch irritiert, daß er einen nagelneuen, tiefblauen Mercedes als „Verführung“ in der Ausstellung placiert, setzt nur fort, was Duchamp 70 Jahre zuvor wagte: Duchamp hatte erst ein Fahrrad-Rad (1913), dann einen industriell gefertigten Flaschentrockner (1914) und schließlich ein Urinoir (1917) in Ausstellungen als Kunstwerke präsentiert. Indem er dem selbstgeschaffenen Werk das vorgefundene Objekt („Readymade“) vorzog, hatte er den überkommenen Kunstbegriff erschüttern wollen, hatte zeigen wollen, daß genau nur das Kunst ist, was dazu erklärt, was dafür gehalten wird. Mit seiner bewußt anti-künstlerischen Haltung war Duchamp zugleich ein Vater der Dada-Bewegung, die sich während des Ersten Weltkrieges (und danach) gegen die bürgerlich-traditionellen Kunstvorstellungen erhob. Aber auch der Surrealismus und die KonzeptKunst profitierten von dem radikalen Denken und Tun Duchamps. Und wenn heute ein Bildhauer wie Carl Andre meint
„Kunst ist, was Künstler machen“, dann antwortet er indirekt auf Duchamp, wobei er hinter dessen Linie der Kampfansage zurückkehrt. Marcel Duchamp, der früh auch den Weg nach New York fand und dort ein wichtiges Bindeglied zwischen europäischer und amerikanischer Avantgarde wurde, blieb zeitlebens seinen Vorstellungen treu. So gelang es ihm tatsächlich, sich selbst in seinem Schaffen weder zu kopieren noch zu wiederholen. Duchamp hatte als Maler begonnen. Erst setzte er sich mit den Impressionisten auseinander, dann mit den Kubisten und Futuristen. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg waren die Künstler fasziniert von der Vorstellung, im statischen Bild Bewegung festzuhalten. Marcel Duchamp war einer der ersten, die diesen Vorsatz vollendet umsetzten: Sein 1912 entstandeEINEN FLASCHENTROCKNER präsentierte Marcel Duchamp 1914 als Kunstobjekt. nes Gemälde „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ (in dem er die Abfolge des Begewegungsablaufs einer Figur in fünf Phasen gestaltete) verhalf ihm zum Durchbruch. Auch mit seiner Art, sein eigenes Werk zu dokumentieren, setzte er Maßstäbe. An die Stelle des Katalogs setzte er das tragbare Museum, einen Koffer mit Reproduktionen seiner Arbeiten.
28. 7. 1987