Ohr des Lauschers an der Tür

Über dem Eingang leuchtet in roter Schrift der Name Pedicord
Apts. Geht man durch die offene Tür hinein, gelangt man in die
Vorhalle eines kleinen billigen Hotels. Von dort aus erreicht man
einen Gang mit je drei geschlossenen Türen auf jeder Seite.

Plötzlich ist man, ohne gebucht zu haben, selbst Hotelgast. Wo aber
geht man hin, was verbirgt sich hinter den Türen?
Wer keine Neugierde zeigt, erlebt nur einen stummen Raum.
Wer aber das Rätsel der verschlossenen Türen ergründen will
und nah genug herangeht, der setzt unversehens Tonbänder in
Gang und hört hier einen Hund bellen, dort eine Frau schluchzen.
Mit dem Ohr an der Tür erschließt der Besucher ein doppeltes
Geheimnis: Er erfährt, was sich im Verborgenen abspielt, und
sieht sich selbst als Lauscher entlarvt.

Seit mehr als 20 Jahren gelingt es dem amerikanischen Künstler
Edward Kienholz immer wieder, uns im Kunstraum so stark mit
der Alltagswelt zu konfrontieren, dass wir nicht mehr distanzierte
Zuschauer bleiben können, sondern als Betroffene in seine
Räume, Installationen und Objektbilder (Tableaus) einbezogen
werden. In der Düsseldorfer Kunsthalle, in der von Kienholz die
Arbeiten der 80er Jahre zu besichtigen sind, bildet das begehbare
Werk Pedicord Apts eine der eindringlichsten Arbeiten, weil hier
anscheinend unaufwendig das Fundament für die alltäglichen
Peinlichkeiten gelegt wird.

Edward Kienholz (Jahrgang 1927) ist durch die Jahre seiner Arbeitsweise
treu geblieben. Aus persönlichen Erinnerungen baut
er Reliefbilder oder Räume, in denen er pointiert Situationen beschwört,
in denen der Mensch in seiner Einsamkeit, Käuflichkeit
und Zerstörung gezeigt wird. Die Materialien, die er dabei verwendet,
sind lebensnah, milieuecht. sie stammen aus Abbruchhäusern
oder von Trödelmärkten. Alle Dinge sind voller Lebensspuren.
Was sich in Kienholz Arbeitsprozeß geändert hat, ist die Tatsache,
dass er seit den frühen 70er Jahren seine Bilder und Räume mit seiner Frau Nancy Reddin gemeinsam entwickelt. Ob auf diese Kooperation zurückzuführen ist, dass die Tableaus der 80er
Jahre bisweilen eine eigene (zum Malerischen neigende) Kraft
entwickeln, ist nicht auszumachen.

Die Liebe ist in dieser Welt der Kienholz nur noch eine Täter-
Opfer-Beziehung. Sinnbild dafür ist die große mehrteilige Installation
Hoerengracht, in der das Amsterdamer Prostituierten-Milieu
mit seinen Wohnzimmer-Einblicken aufgebaut ist. Alle werden
zu Gefangenen dieser Welt – auch die Besucher, die hindurchgehen.
Der hohe Saal der Düsseldorfer Kunsthalle wurde dem gewaltigen
Monument The Ozymandias Parade vorbehalten, das ein
Mahnmal gegen Macht., Gewalt und Zerstörung ist.

Von weitem erscheint es wie die Attraktion eines Rummelplatzes: An einem
riesigen silbern glänzenden Podest in Form eines Pfeiles leuchten
ständig schwarz-rot-goldene Glühbirnreihen auf. Je näher man
kommt, desto klarer wird der Schrecken: Ein Führer hängt unter
dem Bauch eines sich aufbäumenden Schimmels, dahinter reitet
ein General auf einer zum Totenskelett verwandelten Frau, ein
anderes Pferd liegt auf dem Rücken. Während hinten winzige
Panzer und Soldaten Krieg spielen, stehen vorne abseits ratlos
afrikanische Holzfiguren.
Es ist eine ebenso anziehende wie abstoßende Allegorie von
Hochmut und Macht; ein Glanzpunkt der Ausstellung und doch
nicht ihr Zentrum. Die zweite Düsseldorfer Kienholz-Schau
(nach 1970) dokumentiert die ungebrochene Aktualität dieser kritischen
Kunst.
HNA, 15. April 1989

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