Zwischen Nähe und Weite

Im Frühsommer 2000 kehrt die Kasseler Gemäldegalerie ins Schloss Wilhelmshöhe zurück. Vor diesem Hintergrund stellen wir 26 Hauptwerke der Galerie vor, die auch jetzt zu sehen sind. Das Bildnis der Elsbeth Tucher zählt zu den bekanntesten deutschen Porträts nicht nur, weil es früher auf dem 20-Mark-Schein reproduziert war.

Als Albrecht Dürer (1471-1528) im Jahre 1499 das Porträt schuf, war er von seinem ersten Venedig-Aufenthalt zurückgekehrt und betrieb seit vier Jahren eine eigene Werkstatt. Das Bildnis der Tucherin gilt als eines der hervorragenden Zeugnisse der deutschen Renaissance, in dem die Diesseitigkeit zur Geltung kommt und eine harmonische Verbindung zwischen Nähe und Ferne hergestellt wird. Zum Bindeglied wird der Kopf mit seinen markanten Backenknochen, der zu einem Drittel vor einer weitläufigen, durch die Wolkenformationen realistisch angelegten Landschaft zu sehen ist.

Der Blick des Betrachters geht, wenn er das Bildnis wahr genommen hat, unwillkürlich in die Weite, wird dann aber zurück geholt und von den Augen der Tucherin in eine andere Richtung gelenkt. Dahinter steht ein klares Kompositionsprinzip: Dürer hatte 1499 den Auftrag erhalten, die Brüder Hans und Niclas aus der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher mit ihren Frauen zu porträtieren. Er schuf zwei Doppelbildnisse (Diptychen), die, wie der Kasseler Katalog „Altdeutsche Malerei“ deutlich macht, unmittelbar aufeinander bezogen waren. Während das Bildnispaar, das Hans und Felicitas Tucher zeigt, erhalten blieb (heute: Kunstsammlungen Weimar), ging das Gegenstück zu dem Kasseler Werk verloren. So ist davon auszugehen, dass die Augen der Elsbeth Tucher den Blick des Betrachters zum Porträt ihres Mannes lenkten. Für alle vier Bilder hatte Dürer die gleiche Grundstruktur gewählt: Auf der Außenseiten bilden kostbare Stoffe den Hintergrund, während auf den Innenseiten Landschaftsdarstellungen die Kulisse bilden. Wie stark die vier Porträts als Einheit gedacht waren, ist auch daran abzulesen, dass bei dem Weimarer Bildnispaar der Mann den Ring (als Zeichen der Ehe) zwischen den Fingern hält und bei dem Kasseler Bild die Frau. Elsbeth Tucher war 26 Jahre alt, als das Porträt entstand und bereits seit sieben Jahren verheiratet.

Sie trägt ein festliches Gewand, dessen ornamentaler Schmuck mit dem Dekor des Brokatstoffes im Hintergrund korrespondiert. Nicht nur gegenüber der Landschaft, sondern auch im Verhältnis zu dem flächigen Stoff gelang Dürer eine plastische Ausbildung von Kopf und Haube. Die Forschung geht davon aus, dass die Inschrift über der Haube, die den Namen und das Alter angibt, nicht von Dürer stammt. Während das NT auf der Brosche als Initialen von Niclas Tucher gedeutet wird, wird nach wie vor über den Sinn der Buchstabenfolge auf dem Haubenband gerätselt.

13. 12. 1999

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