Zwischen Adlern und Fahnen

So viel Schwarz-Rot-Gold war nie. Die am Freitag eröffnete Fußball-Weltmeisterschaft stellt vieles auf
den Kopf, was bisher galt. Dass sich Fans mit schwarz-rot-goldenen Fahnen auf den Weg in die Stadien machten oder sich die Nationalfarben auf die Wangen malten, gab es schon früher. Doch jetzt leuchten
die deutschen Farben zwischen Dessous und Würsten. Selbst Kantinen und Supermärkte wollen mit schwarzrot-
goldenen Girlanden beweisen, dass sie dabei sind, dass sie Daumen drücken und die Begeisterung anheizen – um bessere Geschäfte zu machen.

Jahrzehntelang hatten die Deutschen ängstlich bis panisch darauf reagiert, wenn außerhalb öffentlicher Gebäude die Nationalfarben wehten. Zu stark war noch die Erinnerung an die verordneten Flaggenmeere
der Nationalsozialisten und später auch der DDR-Führung. So wie den Deutschen nach dem Dritten
Reich und dem Zweiten Weltkrieg der Bezug zur eigenen Geschichte verloren gegangen war, so hatten sie ihre Natürlichkeit und Spontaneität im Umgang mit der Nationalfahne verlernt. Ältere Zeitgenossen
hatten dementsprechend ihre Schwierigkeiten, als es unter siegreichen deutschen Sportlern bei internationalen Wettkämpfen Mode wurde, sich in das schwarz-rot-goldene Tuch zu hüllen.
Nun sieht unser Land ganz anders aus: Die Deutschland-Farben leuchten, wohin man blickt. Sie schmücken aber
nicht als Zeichen des Sieges, sondern als Beweise der Unterstützung und Ermunterung. Haben wir Deutschen damit zu uns selbst zurückgefunden? Ist die Unsicherheit im Umgang mit den Symbolen einer neuen Normalität gewichen? So einfach ist das nicht. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Ausstellung „Was ist deutsch?“, die das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft organisiert hat. Es ist eine notwendige und auch unterhaltsame Ausstellung. Sie spielt voller
Ironie mit den Vorurteilen und Symbolen (Biertrinker, Gartenzwerg, Pickelhaube und Schäferhund), und sie
meint es doch ganz ernst.

Wahrscheinlich geht es vielen Besuchern der Ausstellung und Lesern des hilfreichen Kataloges
(272 S., 18 Euro) so, dass sie viele Klischees, die dort beschrieben und beschworen
werden, weit von sich weisen, weil sie weder als Ordnungs- oder Sauberkeitsfanatiker eingestuft werden
wollen noch als Dackelbesitzer im Trachtenlook. Dafür gibt es andere Bereiche, in denen sie sich gern mit gleich Gesinnten als Deutsche einordnen lassen – wenn etwa die jahrhundertealte Italien-Sehnsucht
der Deutschen geschildert wird.
Die Nürnberger Ausstellung beantwortet die selbst gestellte Frage „Was ist deutsch?“
nicht. Sie verweigert die Antwort, weil sie so generell nicht zu geben ist, zumal sich mancher
eher als Bayer oder Kölner fühlt denn als Deutscher. Sie zeigt aber auch, wie leicht es ist, die nationale Identität, die streng genommen erst seit 130 Jahren gepflegt wird, auf einzelne Symbole und damit auf Vorurteile zu reduzieren. Es ist kein Zufall, dass gerade jetzt aus vielen Richtungen
versucht wird, die deutsche Identität zu bestimmen und gleichzeitig die Periode der ewigen Selbstzweifel zu beenden. auf Vorurteile zu reduzieren. Es ist kein Zufall, dass gerade jetzt aus vielen Richtungen
versucht wird, die deutsche Identität zu bestimmen und gleichzeitig die Periode der ewigen Selbstzweifel zu beenden. So erscheint es symptomatisch,
dass an demselben Tag, an dem Nürnberg seine Ausstellung startete, in Berlin im Deutschen Historischen
Museum die Dauerausstellung zur deutschen Geschichte eröffnet wurde. Auch dort wird die Frage nach dem Standort und Wesen der Deutschen gestellt.

Und? Gibt es in Berlin eine Antwort? In dem Sinne, dass man sie hier in ein oder zwei Sätzen wiedergeben
könnte, gewiss nicht. Eher beschreibt sie mithilfe der 8000 kulturhistorischen Objekte den
Weg zu möglichen Antworten. Auf keinen Fall lässt sich aus der Dauerausstellung ein Leitbild
entwickeln, mit dessen Hilfe man sich und anderen zeigen könnte, wo es lang gehen sollte. So, wie die
deutsche Geschichte als ein Prozess sichtbar wird, der von ständigen Wechselwirkungen mit den
europäischen Nachbarn zeugt, so erweist sich das deutsche Wesen als komplex und ungreifbar.

Wohl kann man Luthers deutsche Bibelübersetzung als die Begründung einer gemeinsamen Sprachkultur oder das Dichtergespann Goethe-Schiller als Heroen deutscher Literatur feiern, doch ansonsten lässt sich
aus der Geschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur wenig nationaler Saft saugen. Dann aber, als das Deutsche Reich begründet war, gab es mehr Anlass zu Schmerz und Trauer als zu Stolz.
10. 6. 2006

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