Meisterwerke russischer Malerei in Köln
Touristen, die heute nach Moskau und Leningrad reisen, um dort die reichen Kunstschätze
zu studieren, lernen viel Schönes kennen; die Spitzenwerke russischer und sowjetischer
Avantgarde aus den beiden ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts aber werden sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie lagern in den Depots — aus Platzgründen, aber auch deshalb, weil sie der heutigen sowjetischen
Kunstpolitik nicht als so wichtig und beispielhaft eingestuft werden. Da muß man schon auf Ausstellungstourneen ins westliche Ausland warten, um sich zu überzeugen, daß die russischen Künstler den Aufbruch in die Moderne zu Beginn unseres Jahrhunderts nicht nur mitmachten, sondern dabei zeitweise
auch richtungsweisend wirkten.
Nachdem vor vier Jahren die Düsseldorfer Kunsthalle die großartige Malewitsch-Ausstellung zu Gast gehabt hatte, zeigt nun (noch bis 25. März) die Kölner Kunsthalle „Meisterwerke russischer Malerei vom Ende
des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“. Die Ausstellung schließt zeitlich mit der Oktoberrevolution (1917), spart also jene Werke aus, in denen Revolutionsideen und avantgardistische Kunst
eine einmalige Verbindung eingingen. Trotzdem ist in der wohl inszenierten, 73 Werke umfassenden
Schau lebhaft nachzuvollziehen, wie sich die russische Malerei, die ganz im Zeichen eines eigenständigen, historisch und sozialkritisch geprägten Realismus stand, unter dem Einfluß der Impressionisten,
Expressionisten und Kubisten den neuen Ausdrucksformen öffnete und auf diesem Wege zu sich selbst fand.
Die gern gestellte Frage nach der Eigenständigkeit russischer Malerei in jener Zeit ist nicht nur müßig, sondern auch ungerecht. Natürlich strahlte Paris bis Moskau und Leningrad aus. Doch während in Westeuropa,
insbesondere auch Deutschland, den neuen Tendenzen heftiger Widerstand entgegengesetzt wurde, nahmen die russischen Sammler die Impressionisten, Fauvisten und Kubisten sofort mit offenen Armen auf. Den Höhe- und Schlußpunkt der Kölner Ausstellung bilden die Gemälde von Kasimir Malewitsch. Sein 1915 gemaltes Bild
„Frau mit Rechen“ steht für die nach reiner Geistigkeit suchende Malerei (Suprematismus): Figur und Landschaft werden zu reinen, farblich klar voneinander abgegrenzten Formen. Aber auch hier ist, dem Tenor der
Schau entsprechend, der Bezug zur Figürlichkeit, zur Realität nicht aufgegeben.
Dreizehn Jahre vorher entstand „Das Abendbrot“ von Lev Bakst, in dem eine elegant gekleidete
Frau in Schwarz das Gegenwicht zu einem überdehnt langen Tisch mit weißer Decke bildet, aus der die Farbe herauszufließen scheint. Ein Triumph des Jugendstils. Fasziniert steht man auch vor den leuchtend
bunten Gemälden von Abram Archipow („Gäste“, 1914) und von Filipp Maljawin („Wirbel“, 1905), in denen die impressionistische Malerei die ländliche Welt erobert und Licht, Farbe und Bewegung aus einer ganz
freien Pinselführung gewinnt. Man trifft hier auch auf ein melancholisch verträumtes Landschaftsbild von Marc Chagall („Fenster in der Datscha“, 1915) mit allerdings ersten surrealen Ansätzen. Im Zentrum
aber stehen Werke, in denen mit den Mitteln des Expressionismus und Kubismus das Verhältnis zu Figur und Landschaft neu gestaltet wird (sehr schöne Beispiele vor allem von Aleksandra Exter und Natalija Gontscharowa). Man sieht aber Gemälde — wie „Die Mutter“ (1913) von Kosma Petrow-Wodkin — deren poetischer Wirklichkeitssinn im späteren sozialistischen Realismus mehr als platt nachempfunden wurde.
17. 3. 1984