Die Bilder des Francis Picabia
Leda und der Schwan, ein altes und beliebtes Thema der Kunst. In diesem Bild ist die Verschmelzung besonders intensiv dargestellt: Mitten aus einem nur naiv-umrißhaft gemalten Kopf richtet sich vom Mund bis zur Stirn ein schwarzer, doppelköpfiger Schwanenhals empor. Der fast zeichnerischen Konturierung des Frauenkopfes
steht die locker-flockige Ausmalung des Schwans gegenüber. Ein Bild, das genau dem Erzählstil und der Malweise der jungen Szene entspricht. Es ist aber vor 50 Jahren entstanden, im Atelier des Franzosen Francis
Picabia (1879 – 1953).
Dieses „Leda“-Bild wirbt auf Plakat und Katalog für die große Francis Picabia-Ausstellung, die in der Düsseldorfer Kunsthalle gezeigt wird und dann nach Zürich und Stockholm wandert. Ist Francis Picabia also neben Henri Matisse und den Expressionisten ein weiterer Vater der neuen Malerei? Gewiß hat Picabia in den
20er und 30er Jahren manches von dem vorexerziert, was heute die jüngere Malergeneration begeistert: Plakative Formensprache, bewußt nachlässiggrober Farbauftrag, impulsive Ubermalungen. Da war er schon
Pionier.
Auch seine Transparenzbilder jener Zeit scheinen etwas von dem vorwegzunehmen, womit Sigmar Polke in den 70er
Jahren hervortrat: Landschafts-, Tier- und Menschenkonturen, die sich vielfältig überlagern und in der Fläche mehrere Ebenen entstehen lassen — ein kunstvoll gewobener Motivteppich. Picabia bediente sich dabei
klassischer Formen und näherte sich wieder der akademischen Malweise an.
Es ist legitim, den aktuellen Aspekt in Picabias Werk in den Vordergrund zu rücken, dennoch darf die Würdigung dieses schillernden Künstlers nicht darauf verkürzt werden. Ausstellung und Katalog stellen
nämlich den gesamten Picabia vor und dokumentieren damit, daß wir es hier mit einem Maler zu tun haben, der alle Höhen und Tiefen der Kunst unseres Jahrhunderts mit durchschritten hat.
Seine ersten großen Erfolge errang er (bis 1908) mit impressionistischen Gemälden. Dann
sog er begierig die Einflüsse der Kubisten auf, bis er ab 1915 faszinierend kühle, klare und monumentale
Bilder von Maschinen entstehen ließ. Malerei, Zeichnung und Collage verbinden sich hier auf vollendete
Weise: „Sehr seltenes Bild auf der Erde“ heißt eine 1915 entstandene Collage (öl, Blattgold, Blattsilber, Holz auf Pappe), die streng, klassisch und edel das Bild einer Phantasie-Maschine beschwört. Picabia hatte damals seine künstlerisch wohl größte Zeit. Sein Weg hätte ebenso in die neue Sachlichkeit wie in den
Surrealismus führen können. Er, der zu allen avantgardistischen Strömungen Kontakt hatte
und ein Mitstreiter der Dadaisten war, erkundete spielerisch die Möglichkeiten der Bildkunst — bis hin zu Abstraktion und Provokation. Seine späteren Transparenzbilder bauen darauf auf, verlieren aber schnell den
Wagnis-Charakter.
Um 1940 malt er plötzlich kitschige Akt-Bilder, die sich nur dadurch von der Nazi-Kunst
unterscheiden, daß sie sich offensichtlich nicht auf die Wirklichkeit, sondern die Filmwelt beziehen. Ein rätselhafter Seitensprung, der Picabia für einige Zeit weit weg von der Avantgarde führt.
In der Nachkriegszeit dann wieder großartige abstrakte Bilder: Schichtenweise Zumalungen, die dicke, einfarbige und reliefartige Farbflächen entstehen lassen, in denen punktartige Löcher etwas von der Tiefe und
vom Wachsen der Bilder verraten. Francis Picabia: ein Künstler, der ganz unmittelbar auf die Strömungen der Zeit reagierte. Verdienstvoll an Katalog und Ausstellung ist, daß sie dieses Auf und Ab wahrheitsgetreu
dokumentieren.
22. 11. 1983