Wie die Musik neu erfunden wird

Fluxus-Künstler Ben Patterson eröffnete zweite Ausstellungsrunde im Kunstverein

KASSEL. Für drei Wochen hat sich der provisorisch genutzte Ort des Kasseler Kunstvereins
(im Haus Erzbergerstraße 15) von einem Ausstellungs- in einen Veranstaltungsraum verwandelt.
Es steht noch das ebenso fremd wie vertraut wirkende Objekt von Olav Westphalen aus der ersten Runde der Ausstellungsreihe „Zipp“.

Hinzu gesellt haben sich drei Telefonzellen und drei Hausgeräte – ein Kühlschrank, eine Waschmaschine und Herd. Vor den Küchengeräten stehen kleine Holzbänke. Für diese Möblierung hat der Fluxuskünstler
Ben Patterson (Jahrgang 1934) gesorgt. Eine Ausstellung? Wohl kaum. Aber es wächst so etwas
wie eine Ausstellung heran.

Fluxuskünstler sind unverbesserlich. Haben sie einmal den Pfad der normalen Kunstproduktion
verlassen, können sie nicht mehr auf ihn zurückkehren. Für jede Präsentation erfinden sie eine neue Inszenierung. Das gilt auch für Patterson, der über die Musik in den 60er-Jahren zur Fluxus-Bewegung gestoßen
ist. Sein Werk ist die Aufführung, die Performance.

Bis zum 10. Juni hat Patterson im Kunstverein 16 Vorträge und Performances geplant, die per Audio oder Video dokumentiert werden. Die reinen Hörstücke können die Besucher in den Telefonzellen anhören, die Videos
können sie auf den Monitoren, die in die Hausgeräte eingebaut sind, verfolgen. Schon dieses Arrangement
verrät Witz. Mit Witz arbeitet Patterson auch in seinen Performances. Da wurden beispielsweise am Sonntagabend sieben Teekessel erhitzt, auf deren Tüllen gelbe Luftballons aufgezogen waren. Unter Zischen und
Pfeifen blies die erhitzte Luft die Ballons auf, bis sie durch kleine Wurfpfeile zum lautstarken
Platzen gebracht wurden.Das vordergründige Spiel wird durch geschickt gesteuerte Effekte zur Klangfolge. Das Ergebnis sind Heiterkeit und ein unerwartetes Hörstück.

Die zweite Performance („Paper Piece“) bezog sich auf die große Fluxus-Zeit der 60er-Jahre,
in der zwar die Ideen reichlich flössen, in der Kasse aber häufig Ebbe herrschte. In jener Zeit suchte Patterson Material, das billig war und mit dem trotzdem vielseitige Klänge und Musikstücke
erzeugt werden konnten. Er entdeckte das Papier als dieses ideale Material.
Dezent von ihm geleitet und dirigiert, gingen nun im Kunstverein die Akteure ans Werk. Sie
zerknallten Tüten, rissen und schlugen Papierbahnen, raschelten mit Briefen, blätterten
und klopften Bücher und zerstampften Pappkartons. Die zerstörerische Aktion gewann plötzlich Rhythmus und eine auf- und abschwellende Struktur. Musik kann eben auch ganz anders sein.

14. Mai 2002

Nachtrag
Jetzt erreicht uns die Nachricht, dass Ben Patterson gestorben ist.
Und gleichzeitig erfahren wir, dass Patterson an der kommenden documenta 14 teilnehmen soll. Das ist schon eine Überraschung, dass Adam Szymczyk einen Künstler wie Patterson in seine Ausstellung holt, schien es doch im documenta-Jahr 2002 so (als er im Kasseler Kunstverein ausstellte und seine Performances inszenierte), als gehöre der Künstler einer längst überlebten Generation an. Fluxus lebt eben doch weiter.
30. 6. 2016

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