Die Konstruktion der Welt

Hildegard Jaekel ist immer wieder für Überraschungen gut. Bisweilen fühlt man sich an ein Chamäleon erinnert, das in dem Moment, in dem man seine Farbigkeit zu erfassen sucht, sein Aussehen ändert. So schwer ist die Künstlerin zu fassen und auf einen Punkt zu bringen.
Ich bin eigentlich Bildhauerin, sagt sie dem Atelierbesucher, der gerade eine ihrer Gemäldeserien begutachtet. Ja, natürlich, diese massiven Bildflächen haben etwas Plastisches an sich. Die aufeinander aufgetragenen Schichten siedeln sich im Grenzbereich zu Reliefs an. Räume tun sich auf, und die aus Erden zubereiteten und gemischten Farben tragen ein Übriges dazu bei. Und wenn auf einer dieser Tafeln das Volumen eines kauernden Menschen herausgearbeitet wird, tritt das Körperhafte hervor.
Plastisch sind auch ihre jüngsten Schöpfungen, in denen über die Farbschichten Bahnen aus Gaze oder Fliegengitter gespannt sind. Nicht nur, dass diese Bilder tatsächlich Reliefcharakter gewinnen. Man hat das Gefühl, dass sie changieren und atmen.
Aber dann ist sie wirklich auch Bildhauerin. Ihr in dieser Beziehung prominenteste Werk ist der „Stuhl des Chefredakteurs Karl Marx“, ein Denkmal in Kassel, das im Grunde die Karikatur eines Denkmals ist. Denn die Arbeit der Künstlerin macht die Absurdität der städtischen Situation bewusst: Die Stadt wollte mit ihrer Namensgebung für einen Platz den großen Karl Marx ehren. Aber als geeigneten Ort fand man lediglich eine Verkehrsinsel. Diese missglückte Ehrung spiegelt Hildegard Jaekel in ihrem Werk, indem sie auf eine drei Meter hohe Stele unerreichbar einen winzigen und folgerichtig leeren Messingstuhl setzte
Es sind vor allem die plastischen Arbeiten, in denen Hildegard Jaekel ihre Neigung zum Anekdotischen und zur Pointe auslebt. Das können auch Fundstücke sein, die sie in neue Beziehungen bringt. Ein kleines Vogelei und das Skelett eines Vogelkopfes unter einer Glasglocke – mehr braucht sie nicht, um im Sinne der barocken Stillleben einen Bogen von der Geburt zum Tod zu schlagen.
Vielleicht sind Hildegard Jaekels so unterschiedliche Werkkomplexe deshalb so überzeugend, weil sie sich ihnen widmet, bis sie ausgereizt sind. Das gilt beispielsweise auch für die heiteren und spitzbübischen Cartoons, die 2014 unter dem Titel „Irrwitziges Nebenher“ als Buch herauskamen und die Zeugnis davon ablegen, wie sie aus atemlos notierten Linien ein Panoptikum schaffen kann.
Ja, die Bildhauerin, die auch malt, liebt das Zeichnen ebenfalls. Vom schnellen karikierenden Strich war eben die Rede. Aber genauso intensiv und vielgestaltig pflegt sie das systematische, konzentrierte Zeichnen von kleinen Kreisen, die sich verknüpfen und sich wie Maschen ausbreiten. Durch ein Ausstellungsprojekt ist Hildegard Jaekel wieder in den Sinn gekommen, dass sie vor Jahren schon mit Kompositionen beschäftigte, in denen sich Netzstrukturen bildeten. So hatte sie für Installationen Strickobjekte geschaffen, die im Raum den Übergang von der Zeichnung zur transparenten skulpturalen Struktur vollzogen.
Eine dieser schwarzen Zeichnungsserien setzte sich mit konstruktiven Überlegungen auseinander: Wie erfasst man ein sich im Raum biegendes Blatt oder wie wirkt ein Quadrat, das aus einer verzerrenden Perspektive gesehen wird? Diese Zeichnungen forderten die Künstlerin heraus, denn mit der Wahl der strengen geometrischen Formen konnte sie sich mit ihrem Stift nur in engen Grenzen bewegen. Aus den Maschen entstanden dichte Gewebe. Doch die gestalteten Flächen waren gar nicht so einheitlich schwarz, wie man zuerst vermuten wollte. Der Wechsel von starken und schwachen Formen ließ ein flirrendes Grau-Schwarz entstehen.
Nun aber entstand in jüngster Zeit eine ganz anders angelegte Serie von Zeichnungen, die einerseits so geschlossen ist und andererseits so überraschend im Grenzbereich von reiner Form und erzählerischer Kraft angesiedelt ist, dass sich Hildegard Jaekel entschied, sie in diesem Buch zu versammeln. Wir werden in eine geheimnisvolle Welt entführt, in der aus kleinen, manchmal winzigen Kreisen zauberhafte Wesen wachsen, die an Kleinstlebewesen, an Amöben, Quallen oder Insekten erinnern. Sie scheinen im Raum zu schweben, treiben hoch oder bewegen sich fort, strecken ihre Fühler aus oder sinken wie Fallschirme zu Boden.
Diese gezeichneten Wesen formen sich nach eigenen Gesetzen. Sie entstehen für Hildegard Jaekel eher zufällig, ohne Plan. Gleichwohl sind sie nicht absichtslos ausgeformt. Die Künstlerin muss sich mit dem Fineliner strengster Disziplin unterwerfen, denn mit dem feinsten Pigmenttusche-Stift reiht sie Kreis um Kreis aneinander. Die vermeintlich Linie, die einen Fühler oder ein Insektenbein darstellen kann, ist in Wahrheit eine zarte Kette, deren kreisförmige Struktur man nur unter der professionellen Lupe erkennen kann.
Es ist eine unerbittliche Arbeit, auf die sich Hildegard Jaekel da einlässt. Mit höchster Konzentration geht der Blick durch die Lupe, damit jeder Kreis in der vorgegebenen Ordnung bleibt. Einen Monat sitzt sie daran, um die Zeichnung zu vollenden. Das Großartige daran ist, dass das Mühevolle im fertigen Blatt überhaupt nicht spürbar ist. Die amöbenhaften Gebilde oder mutmaßlichen Insekten wirken leicht, heiter und zerbrechlich. Solange die Künstlerin daran arbeitet, weiß sie nicht, wohin der Stift sie führt. Doch wenn sie fertig ist, eröffnet die Form eine leichtfüßige Erzählung, in der die Zeichnungen auch pseudowissenschaftliche Namen erhalten – wie „Amoebina periculum in mora“ (Gefahr in Verzug). So, wie sich die Amöbe aus Einzellern zusammenbaut, so wachsen in den Zeichnungen die dicht aneinander gesetzten Kreise zu Fäden, Netzen und Körpern zusammen. Während die um 1988 gezeichneten Maschenbilder zu dichten Geweben wurden, sind die jetzt gestalteten Lebewesen offen und transparent. Das erreicht die Künstlerin dadurch, dass sie die Größe der Kreise variiert und die Intensität des Tuscheauftrags verändert. So wechseln sich zarte Zonen und massive Verdichtungen ab. Es bleibt eben doch Platz für das Spielerische, und für die Konstruktion der Welt hat sich ein neuer Ansatz gefunden. Hildegard Jaekel hat sich wieder einmal eine neue Bildsprache erobert.

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