Ausstellung „Vanitas“ von Hildegard Jaekel in der Neustädter Kirche in Hofgeismar
Es ist zehn Jahre her, dass die in Kassel lebende Künstlerin Hildegard Jaekel hier schon einmal einen Einblick in ihr Schaffen bot. Diese Tatsache führt wie von selbst zu der Frage: Wie hat sich die Künstlerin in dem Zeitraum weiterentwickelt? Oder ist sie dieselbe geblieben?
Die Antwort darauf ist einfach und widersprüchlich zugleich. Ja, sie ist sich und ihrer Grundhaltung treu geblieben, indem sie bis heute immer offen geblieben ist für neue Ansätze und Experimente. Gerade arbeitet sie an Bildern, in denen das, was sie mit ihrer Malerei ausdrückt auf farbige Gazestoffe überträgt. Die so entstehenden Bilder gewinnen überraschende Räume und bewegen sich im Grenzbereich von Malerei und Relief. Auf die Idee ist sie durch ein Fliegenfenster gekommen.
Hildegard Jaekel ist nach ihrem eigenen Verständnis eine Künstlerin, die durch die in den 60er-Jahren entstandene Arte-Povera-Bewegung geprägt ist. Der Begriff Arte Povera – arme Kunst – ist etwas irreführend. Er meint eigentlich die Verwendung alltäglicher Materialien bei der Gestaltung von Kunstwerken. In Wahrheit sind das keine armen Stoffe. Vielmehr entdeckt diese Kunst im Alltäglichen den Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten. Das beste Beispiel dafür ist die Malerei von Hildegard Jaekel: Die Farben, mit denen sie arbeitet, hat sie durchweg aus Erden unterschiedlicher Provenienz gewonnen. Die Malerin lässt die Erden selbst sprechen. Die Farben sind nicht mehr Mittler, sie sind Zeugen einer erdverbundenen Komposition.
Erdverbunden wirken auch die fünf Gemälde, die wir in dieser Ausstellung sehen. Schwarz und Braun, Rot und Grün sowie Grau bilden ein enges, dunkel gestimmtes Farbspektrum. Wir sehen massige Körper. Doch diese Akte liefern sich unseren Blicken nicht aus. Eher verbergen sie sich, krümmen sich in embryonaler Haltung, ziehen sich in sich selbst zurück. Fasziniert erkennen wir, wie nur mit einigen Linien und Schattierungen aus unförmigen Körpern ausdrucksstarke Figuren gestaltet werden.
Es ist, als suchten die Figuren Schutz und Anonymität. Die schweren Körper sind auf eng umgrenzte Flächen gesetzt. Dadurch wirken sie wie Eingeschlossene, Gefangene. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass jeweils neben dieses Bild eine schmale Platte gesetzt ist, die das Gemälde vergrößert und die einen größeren Raum andeutet.
Die Serie der Akte führt die Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens vor. Wir erleben keine selbstbewusste Herausforderung, keine triumphale Gebärde, sondern eher ein Wegducken. Das Grundthema der Ausstellung ist damit angeschlagen – Vergänglichkeit und Leere. Und doch scheinen diese Figuren sicher aufgehoben zu sein, denn sie ruhen in sich selbst. Die Künstlerin sieht sie am Rande der Sehnsucht, Stein zu sein.
Hildegard Jaekel ist eine Erzählerin, eine Künstlerin, die Sinn für Pointen hat und oft mit einem liebenswerten Humor zu Werke geht. Dabei schöpft sie aus den unterschiedlichsten Quellen. Vor allem ihre Objekte, Skulpturen und Installationen warten mit überraschenden Stimmungswechseln auf.
Da ist beispielsweise die Installation „Kinderspielzeug“, eine Arbeit zwischen Leben und Tod, zwischen Freude und Angst. Unser Blick bleibt an dem prächtigen Kinderkleidchen hängen, das auf rotem Grund präsentiert wird. Es ist aus ihrem eigenen Besitz. Einst wurde es aus einem großen Festtagskleid geschneidert. Ja, so stattete man kleine Mädchen aus, die zumindest für die eigene Umgebung wie Prinzesschen auftreten sollten. So legt man den Grund für die Eitelkeit. Aber alle freuten sich. Doch die Kindheit war nicht so strahlend und schön, wie das Kleidchen vortäuscht. Denn Hildegard Jaekel war ein Kriegskind. Die Dimensionen des Schreckens mochte sie wohl nicht erahnen, aber die Zeugen des Krieges umgaben sie. So brachte sie von ihren Spielen im Freien verbogene Geschosshülsen mit und sammelte sie. Hübsches Spielzeug? Die todbringenden Geschosshülsen sind nicht besonders ansehnlich, doch sie faszinierten das Kind und machten das wahrscheinlich verbotene Spiel richtig spannend.
Ein Kind im Sonntagskleid und in der Hand das Kriegsmaterial. Ja, so ist die Welt. Die Widersprüchlichkeit gehört dazu. Ungewöhnlich ist nur, dass bereits das Kind die im Prinzip nutzlosen Dinge nicht wegwarf, sondern über Jahrzehnte aufhob, um dann rund 60 Jahre später als erwachsene Frau die Sammlungsstücke in Beziehung zu setzen. Das stolze Kleid krönt die Arbeit. Fast könnte man über die aufgezogene Schublade mit den Geschosshülsen hinwegsehen.
Die biografisch angelegte Installation provoziert das Erschrecken. Die Arbeit entstand 2004, ist also acht Jahre alt. Durch die documenta 13 und deren breit angelegte Erinnerungsarbeit an die Schrecken des Krieges gewinnt Hildegard Jaekels eine neue, aktuelle Qualität.
Hildegard Jaekel sucht die Pointen und findet sie gelegentlich wie nebenbei. Da sehen wir eine weiße Kiste, in der in vier Reihen je elf Flaschen stehen. 43 dieser Flaschen sind weiß angestrichen. Doch eine glänzt in Goldfarbe. „Alle Menschen sind gleich“ heißt diese Arbeit aus dem Jahre 1994. Doch auf den ersten schnellen Blick sieht man, dass der Titel ein frommer Wunsch bleibt. Die Gleichheit bleibt ein Wunschtraum. Mindestens einer muss aus der Reihe tanzen und etwas Besonderes sein. Das Bestechende an dieser Arbeit ist, dass wie bei einem gelungenen Cartoon keine langen Erläuterungen notwendig sind. Es genügt die lapidare Gegenüberstellung von Bildobjekt und Titel, die einander widersprechen. Dabei wird deutlich, dass die Künstlerin von einer moralischen Grundhaltung geprägt ist. Sie bringt Anspruch und Wirklichkeit wieder zusammen.
Manchmal aber entstehen die Pointen nicht aus dem Erzählerischen, sondern aus dem Spiel mit den gestalterischen Mitteln. Sehr schön ist das nachzuvollziehen an der Arbeit „… und am Ende wird gewogen“. Wir sehen eine Metallstele, die eine spiegelnde Scheibe trägt. Darauf liegt ein halbrunder Holzkeil, der so bearbeitet worden ist, dass er ebenfalls metallisch glänzt. Ja, der Keil ist eine Waage, die man in Schaukelbewegungen versetzen kann und die sich – je nach Belastung – zur einen oder anderen Seite neigt. Die geheimnisvolle Wirkung dieser Arbeit entspringt der roten Linie, die Hildegard Jaekel auf die Unterseite des Keils gemalt hat und die uns erst durch den Spiegel offenbart wird. Diese Schaukelwaage mit der roten Lebenslinie zielt Bilanz. Am Ende wird der Wert eines Lebens gewogen. Die Vergänglichkeit gerät automatisch in den Blick.
Wenn man die Chance hat, ein wenig in dem Kasseler Atelier zu stöbern entdeckt man eine Fülle von Arbeiten, die aus immer anderen Ansätzen entwickelt wurden. So holte die Künstlerin aus einem Karton einen ganzen Stapel postkartengroßer Bilder, die aus der Ferne malerisch wirken, aber schlichte, spontan konzipierte und pointierte Collagen sind. Hier ein Stück schwarzes, ausgerissenes Papier und da drauf ein kleines aus einer Zeitschrift ausgeschnittenes Motiv – eine angebissene Birne, ein Brocken Fleisch oder Würstchen. Es sind zuweilen absurde Kombination. Doch äußerst treffsicher stehen sie für die Vergänglichkeit und Eitelkeit. Aber die Bilder wirken weder schwerblütig noch melancholisch, sondern sind treffsicher wie Cartoons und höchst lebendig.
Hildegard Jaekel verfügt über eine überbordende Phantasie. Sie vermag, Dinge zum Sprechen zu bringen, die uns erst einmal sprachlos erscheinen. Beispielsweise Schaumstoff und Schwämme. Sie formt die Materialien so lange, dass Gewächse entstehen, denen man zutraut, dass sie sich weiterentwickeln. Surreale Formen sind, manchmal halb Tier und halb Gemüse. Wir lernen sie unter Laborbedingungen kennen: Sorgfältig sind sie in kleine Aquarien gesetzt, in denen sie wie biologische Wunder bestaunt werden können und in denen sie weiter wachsen.
Diese „Gezücht“ genannten Arbeiten sind köstlich anzuschauen und parodieren die Welt der genetischen Züchtungen, in der alles möglich scheint und in der man nicht genau weiß, wie lange noch die Kontrolle gelingt.
Mit diesen Kunstgebilden scheint Hildegard Jaekel weit weg zu sein von ihrer eingangs beschriebenen Malerei und von Objekten wie „…am Ende wird gewogen“. Und doch ist sie damit ganz nah bei sich, weil sie bei jedem ihrer Projekte sich dem Material und seinen Möglichkeiten radikal hingibt und ausliefert, um dann sich wieder einer neuen Idee mit Haut und Haar zu widmen.
27. 7. 2012