Der Blick in den Spiegel

Rolf Escher, der in Essen und Berlin lebt, gehört zu den wenigen deutschen Künstlern, die sich ausschließlich der Zeichnung und Grafik widmen. Das gilt auch für die jüngste Zeit, in der Escher mit seinen aquarellierten Zeichnungen immer wieder in den Grenzbereich zur Malerei vorgestoßen ist. Der vorliegende Bildband zieht die Bilanz eines 40jährigen Schaffens. Gleichwohl versteht er sich nicht als eine in Buchform gegossene Retrospektive, denn die Mehrzahl der von Rolf Escher selbst ausgewählten Werke stammt aus den letzten 15 Jahren. Allein ein Drittel der hier versammelten Zeichnungen und Lithographien entstand seit 2010. Für die Fokussierung auf das jüngste Werk gibt es einen guten Grund: Durch seine systematischen Studienreisen hat Rolf Escher nicht nur neue Themen und Motive gewonnen, sondern auch neue Bildlösungen. Vor allem seine zuletzt entwickelte Kunst, traditionsreiche Orte mit historischen Figuren sowie deren Porträts zu verlebendigen, öffnete neue Wege. Unmerklich wird die Vergangenheit aufgehoben.
Die Bilder in diesem Band gruppieren sich innerhalb einer groben Chronologie thematisch. Dem Auftakt mit einigen wenigen Stillleben-Motiven aus den 70er Jahren folgen Zeichnungen der ersten Studienreise nach Italien. Daran schließt sich eine frühe Reihe von Porträts an, bis dann die Beschäftigung mit den großen Bibliotheken breiten Raum einnimmt. Danach werden die Leser mit auf Reisen genommen – nach Venedig und Istanbul, Würzburg, Potsdam und Berlin sowie Paris. Nach Abstechern in Naturalienkammern begegnen wir schließlich ausgewählten Dichtern und ihren Orten.
Stillleben. In seinen ersten Ausstellungen präsentierte sich Rolf Escher als ein Künstler des Stilllebens. Er widmete sich dem Unscheinbaren und schuf doch Szenarien, in denen abgestreifte Schuhe und zerbrochene Scheiben, Kommoden und Spiegel sowie Käfer und HummerAnstoß zu phantastischen Konstellationen gaben. Selbst die Menschen, die gelegentlich als Wartende auftauchten, schienen Teil der Stillleben zu werden. So wurde Escher bis in die 80er Jahre allgemein als ein Zeichner und Grafiker charakterisiert, der es meisterhaft verstand, in der nature morte die Spuren des Lebens frei zu legen.
Gelegentlich hat Rolf Escher seine Bildinszenierungen zu kleinen Dramen zugespitzt, wie die Zeichnung Das Urteil (1976) belegt. Das Blatt entstand innerhalb einer Serie von Arbeiten, in denen verhüllte Sessel und Stühle an Stelle von Menschen zu Darstellern wurden. In diesem Fall gruppieren sich streng symmetrisch vor einer schwarzen Wand zwei und davor noch einmal drei Sessel und Stühle zu einer Art Gericht. Die Stühle tragen schwarze Überzüge, nur der mittlere Sessel, auf dem eine alte schussbereite Kamera wie eine Waffe liegt, leuchtet weiß hervor. Stellvertretend für den Angeklagten steht ein Paar Schuhe vor dem Gericht.
Eine Groteske, die Rolf Escher in der Nähe zu Franz Kafka angesiedelt sieht. In ihr spürt man Humor und spöttische Ironie, aber auch einen Zug ins Magische, der zu einem festen Bestandteil in seinem Werk wurde.
Farbe. Heute ist Eschers zeichnerisches Werk ohne den Einsatz der Farben nicht mehr vorstellbar. Schon immer hatte es Escher geliebt, auf getönten Papieren zu zeichnen, dem Bild also eine Grundierung mit auf den Weg zu geben. Zu Beginn der 80er Jahre setzte er dann neben der Feder sowie dem Blei- und Graphitstift Farbstifte und Aquarell-Farben ein, erst sparsam und diskret und dann immer kräftiger werdend.
Ein Beispiel für die frühe Zeit ist das Bild Stühle im Palazzo del Tè, Mantua (1983). Escher griff er zu gelblich getöntem Papier, das für eine zarte farbige Grundstimmung sorgt. Die Arbeit wirkt, als hätte sich der Zeichner langsam vorgetastet und mit dem Farbstift nur Akzente gesetzt. Wir blicken in ein großartiges Kuppelgewölbe der Spätrenaissance. Unmittelbar unter dem bilderreichen Gewölbe sind zwei Relief-Friese ausgestaltet. Ein Höhepunkt europäischer Baukunst. Doch offenbar hat der Saal seine Überzeugungkraft eingebüßt, denn er wird als Abstellraum für geschichtslose Caféhaus-Stühle genutzt. Wir sind hin- und hergerissen zwischen der Pracht des Bauwerks und der gedankenlosen Alltäglichkeit. Aber schmunzelnd nehmen wir zur Kenntnis, dass der Zeichner sein Grundmotiv der gestapelten Stühle wieder aufgenommen hat, zumal drei Stühle so stehen, als hätten da Personen darauf gesessen.
In der Zeichnung begegnen wir übrigens einem zentralen Prinzip des Zeichners Rolf Escher. Er lenkt unseren Blick auf das Gewölbe, auf die Friese und auf die Stühle, überwältigt uns mit dem Raumeindruck und nimmt sich zugleich die Freiheit, rechts in den Friesen die Figurenfolge zeichnerisch nicht auszuführen, sondern nur anzudeuten. Wir als Betrachter merken gar nicht, dass wir für uns selbst Zeichnung vollenden müssen.
In dieser Beziehung noch radikaler ging Escher bei seiner Arbeit an der Zeichnung Gartensaal der Würzburger Residenz (2011) vor. Die mit der Tuschfeder skizzierten Säulen und Gewölbe von Balthasar Neumann verlieren ihre Schwere und scheinen sich aufzulösen. Alles wird flüchtig, und doch blicken wir gespannt in den von Licht durchfluteten Raum. Völlig ins Ungewisse verliert sich das von Johann Zick geschaffene Deckengemälde, von dem wir wie im Vorübergehen nur die Farbflecken zur Kenntnis nehmen.
Zeitweilig waren die Aquarell-Farben einer Eigengesetzlichkeit gefolgt und hatten sich von den Zeichnungen gelöst, um Schattenzonen und Räumlichkeit herzustellen. Mittlerweile binden sich die Farben meist an die architektonischen Linien und blühen zu großartigen Stimmungen auf, wie die beiden Venedig-Bilder Kuppeln vom Markusdom (2010) im roten Abendlicht und Eingang zum Arsenal (2012) mit seiner Spiegelung zeigen oder wie die spektakuläre Zeichnung Palast der Republik im Abriss, mit Blick auf die Friedrichwerderische Kirche (2008) mit dem Bild im Bild-Motiv vorführt.
Erinnerungsräume. Lange Zeit galt Rolf Escher als ein Künstler, der Geschichten aus verlassenen Räumen erzählte. Seit den 90er Jahren jedoch verwandelten sich vermehrt die gezeichneten Schauplätze in Bühnen, auf denen sich Menschen als flüchtige Gestalten bewegen. Die Lesesäle der großen Bibliotheken füllen sich mit schemenhaften Figuren, wie beispielsweise im Lesesaal der alten Bibliothèque Nationale, Salle Labrouste, Paris (1993) zu sehen ist. Bewegung kommt auf. Rolf Escher hat die Zeichnung mit einer Verbeugung vor dem großen Fotografen Eugène Atget versehen, den er rechts unten so dargestellt hat, als würde er aus dem Bild eilen wollen.
Rolf Escher lässt Vergangenes gegenwärtig werden. In seiner Zeichnung Porte St. Denis bei Heinrich Heines Einzug in Paris 1831 (2013) beleben historische Figuren und fahrende Kutschen derart eine Pariser Straßenszene, dass wir glauben, Zeugen von Heines Ankunft zu sein. Die Hinwendung zur belebten Szenerie ließ Escher zudem ein frühes Motiv wieder aufnehmen – das Getier, das sich dem Stillleben entzieht und zur Bedrohung wird. So entstand im Verlauf von Eschers Beschäftigung mit den großen europäischen Bibliotheken auch das Blatt Wendeltreppe in einer Bibliothek mit Krähen (2000), das uns um die Zukunft der Bücher bangen lässt. Das Ende der Lesekultur scheint endlich gekommen, wenn Der Tod als Bibliothekar (2001) die Bühne betritt.
Leben aber entsteht auch da, wo es nicht zu erwarten ist. In dem Zwiegespräch in Waldsassen (1996) ist aus dem plastischen Schmuck der Bibliothek ein Kopf so lebendig ausgestaltet, dass er zum Leser der vor ihm stehenden Bücher zu werden scheint.
Porträt. Obwohl sich Rolf Escher bereits seit 1971 mit der menschlichen Figur, insbesondere den alten Menschen, beschäftigt hat, ist dieser Aspekt lange Zeit eher beiläufig wahrgenommen worden. Dabei hatte er 1987 mit der Lithographie Das verlorene Gesicht eines der ergreifendsten Porträts eines alten Menschen geschaffen: Wie in einer verzweifelten Situation ist das Gesicht der Frau unter den wirren Haaren und den schlanken alten Händen verschwunden.
Seitdem sich Rolf Escher in den vergangenen fünf Jahren intensiv mit den Pariser Künstlern des 19. Jahrhunderts, Friedrich dem Großen und den Dichtern von Lessing bis Brecht auseinandergesetzt hatte, bilden die Porträts einen eigenen Werkkomplex. Spannend an ihnen ist, dass sie uns Menschen zeigen, die uns durch vielerlei Bilder bereits vertraut sind. Folglich ist es faszinierend zu beobachten, wie Escher beispielsweise Bertolt Brecht (2012) eine Spur verschmitzter zeigt, als er auf der Fotovorlage von Paul Hamann zu sehen ist. Am besten nachvollziehbar wird das Ringen um den richtigen und dann auch überraschenden Ausdruck in solchen Blättern wie den Drei Porträtstudien Hermann Hesse (2011). Diese Annäherungen machen neue Begegnungen möglich.
Zum künstlerischen Porträt gehört das Selbstbildnis. Der selbstbewusste Auftritt des Zeichners auf dem Umschlagbild (Selbstporträt mit Kappe, 2008) ist insofern ungewöhnlich, als sich Escher in den meisten seiner Selbstporträts so an den Rand oder fast aus dem Bild drückte, wie er zuweilen mit den Gegenständen seiner frühen Bildinszenierungen verfuhr. Das vom Stillleben aufgesogene Gesicht des Zeichners wird sonst oft nur durch eine Spiegelscherbe ins Bild gerettet.
Der Blick in den Spiegel, der zwei Wirklichkeitsebenen vereint, ist zu einem Schlüsselmotiv Eschers geworden. Meisterhaft bündelte Rolf Escher seine Themen und Darstellungsformen in der von dunklen Aquarell-Tönen beherrschten Zeichnung Vanitas-Stillleben 1 (2002). Als Teil eines sich spiegelnden Stilllebens sitzt uns der Künstler gegenüber, umgeben von Büchern und den vor ihm liegenden Totenschädel betrachtend. Er blickt über den Tod hinaus und führt Regie.
Sommer 2014, Edition Schöne Bücher, Kettler

Schreibe einen Kommentar