Sich selbst im Blick

Mit dem Angebot, einen repräsentativen Bildband in seiner Reihe Edition Schöne Bücher herauszugeben, hat der Verleger Hartmut Kettler vor zwei Jahren Rolf Escher ein vorgezogenes Geschenk zum 80. Geburtstag gemacht. Heute nun können wir diesen Geburtstag feiern und dabei mit Hilfe der großformatigen Reproduktionen eine ganz neue Bilanz eines Künstlerlebens ziehen.
Rolf Escher hatte das Glück, mehrfach Kataloge und Bildbände zusammenstellen zu können, so dass wir als Freunde seiner zeichnerischen und grafischen Kunst die Logik seiner künstlerischen Entwicklung nachvollziehen zu können. Doch der bei Kettler erschienene Band Zeichnungen eröffnet uns eine wirklich neue Perspektive. Selbst ich, der ich die Freude habe, Rolf Eschers Werk seit 1970 beobachten zu können, hatte beim Schreiben meines Textes für den Band noch nicht erkannt, wie anders jetzt viele Arbeiten in der neuen Übersicht erscheinen. Erst beim mehrmaligen Durchgehen des fertigen Buches wurde mir das klar, vor allem auch deshalb, weil ich mir vorgenommen hatte, ein paar Gedanken zum Menschenbild in Rolf Eschers Werk zu sammeln und auf das Porträt und das Selbstporträt zu sprechen zu kommen.

Die Stellvertreter
Eschers Zeichnungen, Radierungen und Lithographien sind nicht zu denken ohne die Spuren des Menschlichen. Da sind an erster Stelle im frühen Werk die Dinge zu nennen, die auf die Menschen verweisen, die gerade nicht im Raum anwesend sind – wie etwa die Kommode (1983)aus deren Schubladen drei paar Schuhe herausragen und aus denen weiter unten Kleidungsstücke gezerrt sind. Das Stillleben verwandelt sich in das Dokument eines Abenteuers. Was war hier los? Dabei verweist die zweite Schublade von unten auf die nüchterne Realität. Denn da wird eine verstaute Zeitungsseite sichtbar, die unschwer als das Titelblatt der WAZ zu erkennen ist und damit auf Eschers Hauptwohnsitz in Essen verweist.
Noch stärker wird der Verweis auf die abwesenden Menschen in Blättern wie der Zeichnung Restbestände (1985), in der eine kleine Kommode, ein paar Damenschuhe, Schüssel, Schwamm und Toiletten-Utensilien sowie ein kaum zu bändigender Stoff die Stellvertreter-Position für die Menschen einnehmen.

Tier und Mensch
Eines seiner zentralen Themen im Frühwerk war das Stillleben. Doch kaum hatte sich Rolf Escher intensiv der nature morte gewidmet, ließ er sie ein wenig hinter sich, um seine Kompositionen zu beleben und ihnen einen Zug ins Surreale zu geben. Der Hummer im Oval (1971) wirkt lauernd und beobachtend. Nicht von ungefähr fand Escher mit der Verlebendigung und auch Vermenschlichung der Kreatur zu einer Radierfolge, die sich mit Kafkas Erzählung Die Verwandlung (1973)beschäftigte. Aber er illustrierte nicht Erzählungen, sondern wurde selbst zum Erzähler von selbst geschaffenen Fabeln. So entstand 1999 die Radierung Ein Bibliothekar, Variation zu Grandville, in der aus einem Turm aus Büchern und ungeordneten Manuskripten ein Untier hervorlugt, das sich als Hüter der Schriften ausweist. Noch krasser geriet die Tuschfeder-Zeichnung Der Auszug der Bibliothekare (1999), in der riesenhafte Käfer zu sehen sind, die über eine steile Treppe herunterklettern.
Lebendige Architektur
Auf seinen Streifzügen durch Bibliotheken, Theater und Palästen ist Rolf Escher auf zahlreiche Säle gestoßen, die von Büsten und aus der Architektur entwickelten Skulpturen beherrscht waren. Mit großer Freude setzte sie der Zeichner Wegzeichen und als Formen der Bauplastik ein, die sich verselbstständigte. Beispielsweise ließ er in der Zeichnung Trinity College, The Old Library (1999) den nur von hinten gezeichneten Kopf so erscheinen, als habe er sich gerade umgewandt. Und bei der Aristoteles-Büste, ebenfalls aus dem Trinity College (1999) scheint der Zeichner dem Kopf des Philosophen Atem eingehaucht zu haben. In der Zeichnung Der Bücherteufel in der Klosterbibliothek Admont (1997) hat sich das skurrile Wesen gar aus der Architektur gelöst.

Die Vergessenen
Im Schaffen von Rolf Escher gab es eine längere Phase, in der er fast völlig auf die Darstellung menschlicher Figuren verzichtete. Gleichwohl waren die Menschen in seinen Bildern immer zu spüren, sie waren nur gerade nicht anwesend. Da war der Tisch für ein karges Mahl gedeckt, dort lag die Lesebrille und hier flogen die Bücher durch die Luft.
Allerdings hatte Escher in den 70er Jahren eine ganze Reihe von Zeichnungen und Radierungen gestaltet, in denen er sich – meist alten – Menschen zuwandte. Diese Menschen traten durchweg so auf wie die abgelegten und vergessenen Dinge, die seine übrigen Kompositionen beherrschten. Diese Menschen schienen an den Rand gedrängt, ja, es hatte den Anschein, als wollten sie sich den Bildern entziehen. Beiläufiger kann ein Wesen nicht werden, wenn in einem Stillleben (wie in der Ätzradierung Spiegelbild (1972/73) von einer in dem Raum sitzenden Frau in einem Wandspiegel gerade mal nur der angeschnittene Rücken zu sehen ist. Nur wenig besser erging es dem Künstler Charles Meryon, dem Escher eine Hommage (1979) widmete und der Franzose gerade noch in das Bild reingeholt wurde.
8 Selbstporträt 2008 2 9 Selbst mit Zeichenbrett 1986 2
7 Kleines Wolfenbüttler Bücherstillleben mit Selbst 2002 2 6 Kleine häusliche Bibliothek mit Selbstporträt 1998 2

5b Klappspiegel mit kleinem Selbstporträt 1990 2 5a Vor Tagesanbruch 2005 2

4 Selbst, zweimal gespiegelt 1986 2 3c Selbstporträt mit Stift 1991 2

3b Der Zeichner 1986  IMG_7729 2 3a Blick in den Rasierspiegel 1980 2 2b Ungleiche Gewichte 2 1a Kleines maritimes Stillleben 1977 2

2 Werkstattwand 1978 2 1c Stilleben mit Hummer und selbst im Rundspiegel 2005 2 1b IMG_7725 2

10 Selbstporträt mit geneigtem Kopf 2008 2 11 Vanitas-Stillleben I 2002 2 12 Selbstporträt mit Kappe 2008 2

Die Neuentdeckung – Das Porträt
In den 70er Jahren setzte sich Rolf Escher auf vielfältige Weise mit der menschlichen Figur auseinander. Er zitierte Künstlerkollegen und umkreiste das menschliche Porträt. Da aber zu jener Zeit viele von Eschers Werken als Zeugnisse einer versinkenden Welt verstanden wurden, schienen die Bilder mit den menschlichen Figuren auf einen Nebenweg zu verweisen.
Das änderte sich mit aller Entschiedenheit in den letzten 20 Jahren, in denen sich der Zeichner auf das große Wagnis einließ, auf der Grundlage überlieferter Porträts eigene Sichtweisen der Geistesgrößen zu schaffen. Und wenn man das Bild des fast zerbrechlichen Bertolt Brecht mit seiner Wendung ins Verschmitzte betrachtet oder die drei Studien zum Porträt von Hermann Hesse studiert, dann weiß man, dass sich das Risiko gelohnt hat und wir einen neuen Zugang zum Wesen dieser Dichter gefunden haben.
In der Folge der Porträtstudien, die aufs Beste in Kettlers Bildband dokumentiert sind, verbinden sich drei Stränge. Der eine führt zurück zu den frühen Bildern, in denen die wartenden und ratlos wirkenden Figuren zu einer Staffage der Stillleben werden. Aber in jener Zeit entstanden auch schon die Zeichnungen Ein Ehepaar und Die Schwestern (beide 1980), die auf die Kunst des Porträts verweisen. Ein wesentlicher zweiter Strang war die Auseinandersetzung mit der Bauplastik. In der Zeichnung Chimären auf der Galerie von Notre Dame (2008) gelang es Rolf Escher aufs Meisterliche die grotesken Figuren ins Absurde zu steigern.
Zu diesem Spiel mit surrealen Szenerien gehören auch die Kompositionen, in denen der Tod den Ton angibt und sich mal als Bibliothekar verkleidet oder sich unter die venezianischen Masken mischt. Ja, das Leben wird zu einem großen Maskenball, und ohne den Tod ist es nicht denkbar.

Im Spiegel
Rolf Escher gehört zu den Künstlern, die immer auch das eigene Künstlertum und die eigene handwerkliche Arbeit kritisch spiegeln. Bereits 1976 hat er in der Radierserie Versuche, einen Krebs zu begreifen praktisch ein Selbstporträt geschaffen, indem er seine Hände und sein Werkzeug ins Bild setzte. Da er zudem mit besonderer Liebe Kompositionen schuf, in denen Spiegel eine zentrale Rolle spielten, lag es nahe, dass er auch den eigenen Blick in den Spiegel aufnehmen und gestalten wollte. Mir ist klar, dass wir aus der Fülle der Skizzen und Studien viele Arbeiten Eschers nicht kennen. Aber unter den Bildern, die in Katalogen veröffentlicht wurden, konnte ich immerhin 18 Zeichnungen und Grafiken entdecken, die ein Selbstporträt des Künstlers enthalten.
Natürlich denken wir in Kenntnis seines jüngsten Werkes gleich an die 2008 geschaffene Farbstiftzeichnung Selbstporträt mit Kappe. Die Gestalt des Zeichners ist dem Betrachter zugewandt und doch geht der kritische, leicht nach innen gewandte Blick des Künstlers über sein Gegenüber hinweg beziehungsweise an ihm vorbei.. Mit großer Selbstverständlichkeit schmückt dieses Selbstporträt Eschers den Bildband. Der Zeichner reiht sich ein in die Vielzahl der Dichter, Musiker und Künstler, denen er ein neues Gesicht gegeben hat. Und doch ist es ein weiter Weg bis dorthin.
Denn leicht könnte man die frühen Selbstporträts übersehen, weil Escher sie in seinen Bildern ebenso klein hielt und an den Rand drängte wie die anderen Objekte, mit denen er seine Stillleben ausstaffierte. Anfangs wirkte es so, als wären seine ausschnitthaften Selbstporträts ungewollt in die Bilder geraten. In der Radierung Kleines maritimes Stillleben (1977) verbarg sich der Künstler eher, als dass er sich präsentierte. Der eine Teil seines Gesichts war gerade in einem runden Spiegel zu sehen, wobei die Mund- und Kinnpartien durch Teile seiner Hand verborgen waren. Immerhin gab er sich mit den zwischen den Fingern gehaltenem Stift als Grafiker zu erkennen. Die andere Hand tastet eine Muschel ab. Damit wird deutlich, dass sich zwar der Zeichner mit seinem Kopf ins Zentrum des Bildes gerückt hat, dass aber das Selbstporträt nicht das eigentliche Thema ist.
Ganz ähnlich verfuhr Escher mit seinem Selbstporträt ein Jahr später in der Zeichnung Werkstattwand, in der ein Teil seines Gesichtes von einer zerbrochenen Spiegelscheibe aufgefangen wird. Aber auch gab sich der Grafiker mit der Feder in seiner Hand sowie mit der Walze und anderen künstlerischen Utensilien zu erkennen.
Das Kleine maritime Stillleben ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass Escher immer wieder zu einmal gewählten Kompostionen zurückkehrt, um neue Nuancen freizulegen. Denn das letzte Blatt in dem Bildband zeigt die Tuschfeder- und Aquarellzeichnung Stillleben mit Hummer und Selbst im Rundspiegel, die ganz eindeutig das maritime Stillleben variiert. Das angeschnittene Selbstporträt rückt stärker in den Vordergrund. Zudem nähert sich die farbige Zeichnung durch das im Hintergrund stehende Glas, das das Licht reflektiert, dem klassischen Stillleben-Motiv an.

Im Laufe der Jahre sollte das angeschnittene Selbstporträt, das den Zeichner zeigt, wie er das Kinn auf die Hand stützt oder wie er nachdenklich Teile seines Gesichtes verbirgt, zu einem Lieblingsmotiv werden. In den Katalogen habe ich acht Selbstporträts gefunden, in denen er Finger der einen Hand vor die Mundpartie legt und dabei einen Stift oder eine Feder hält. Die Selbstporträts wirken so, als wolle er Maß nehmen, sie legen aber auch die Vermutung nahe, als sei der Zeichner unsicher, ob er sich selbst in das Bild rücken solle.
Immer setzt das Selbstporträt den Blick des Künstlers in den Spiegel voraus. Doch nur dreimal verrät der Titel, dass sich der Künstler mit dem Spiegelbild auseinandersetzt. Dabei waren natürlich alle Selbstbildnisse klar kalkulierte Zeugnisse seiner Selbststudien im Spiegel. Wie etwa in den Bildnissen Hesses oder den Studien von Goethe ging es ihm um den Blick, die Nase und die Augenpartie unter den oft wirren Haaren. Die größte Faszination geht von der 1986 entstandenen Zeichnung Selbst, zweimal gespiegelt aus. Hier tritt das facettenreiche Selbstporträt als künstlerischer Entwurf auf. Gleich doppelt präsentiert sich der Zeichner seinem Publikum und lenkt unwillkürlich die Blicke auf seine Augen, die ihrerseits aber nicht die Betrachter anblicken.
Es ließe sich jetzt lange darüber streiten, welche Botschaften Rolf Escher aussendet, wie alt oder jung er sich zeigt, wie kritisch oder nach innen gekehrt er auftritt. Auf jeden Fall gewinnt das Selbstporträt in den 80er Jahren ein Eigengewicht. Es löst sich aus der Stillleben-Welt und fordert die Betrachter heraus. Hervorragend lässt sich das studieren, wenn man die drei Zeichnungen Selbstporträt, Selbstporträt mit geneigtem Kopf und Selbstporträt mit Kappe aus dem Jahre 2008 vergleicht. In dem Selbstporträt mit geneigtem Kopf präsentiert sich Escher durchsichtig, als blicke man in sein späteres Alter voraus. In dem Selbstporträt mit Kappe hingegen steht er – bei aller kritischen Distanz zu sich selbst – robust vor uns. Allerdings ist in diesem Selbstbildnis auch ein Stück des Blickes in die Ferne enthalten.

In seinem Vanitas-Stillleben von 2002, in dem sich dank des Spiegels der Totenschädel verdoppelt, bleibt jedoch der Künstler in kühler Distanz. Er hat sich mit Büchern umgeben und zu seiner forschenden Rolle bekannt. Sein eigenes Bild ist zwar das zentrale Motiv, doch es ist weit nach hinten gerückt. Wir sehen den Künstler beziehungsweise sein Spiegelbild als zeichnenden Dokumentaristen, dem der Tod nichts anhaben kann. Denn nicht der Tod ist das Thema, sondern das künstlerische Selbstverständnis.

4. 9. 2016

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