Tetsumi Kudo und Loretta Fahrenholz

Fridericianum, Kassel 25. September 2016 – 1.1. 2017 Kunstforum 243

Erst allmählich nehmen wir zur Kenntnis, dass die Avantgarde, die wir in den 60er Jahren als eine vornehmlich europäische beziehungsweise westliche Errungenschaft feierten, gar nicht so singulär war. So machte uns vor neun Jahren die documenta mit dem Werk der Japanerin Atsuko Tanaka bekannt, die 1956 mit ihrem „Electric Dress“ eine Skulptur geschaffen hatte, die aus der Aktionskunst (Performance) hervorgegangen war. Sie hatte damit einer neuen Kunstsprache den Weg geebnet. Nun geht von Kassel aus wieder der Blick nach Japan, um an den Aktionskünstler Tetsumi Kudo (1935 – 1990) zu erinnern. Susanne Pfeffer hat im Fridericianum für Kudo eine Retrospektive eingerichtet.
Kudo war Anfang der 70er Jahre in Ausstellungen in Düsseldorf und Amsterdam gewürdigt worden, dann aber bei uns weitgehend vergessen worden. Völlig zu Unrecht, wie sich jetzt zeigt. Denn Kudos Werk ist auf geradezu sensationelle Weise aktuell – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. In den 60er Jahren trat er wie ein Enkel der Dada-Künstler auf, der die traditionelle Kunst in Frage stellte und mit spielerischem Witz provozierte. Er war nicht in die üblichen Kategorien einzuordnen. Hier entstanden Elemente aus Happenings, dort schuf er Objekte, die überhaupt nicht als Skulpturen zu begreifen waren. Die in Vogelkäfige gesperrten Wesen, die halb Tier, halb menschliche Glieder waren, führten zu Aquarien und miniaturhaften Gewächshäusern, in denen scheinbar exotische Pflanzenkulturen gezüchtet wurden.

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Der schnelle Gang durch die Ausstellung lässt die Abfolge der Werke wie einen bunten Reigen entstehen, der mal absurd und mal grotesk erscheint. Doch in Wahrheit stecken in dieser heiteren Welt Bitterkeit, Verzweiflung und Endzeitstimmung. Zu unserer Welterfahrung zählt in jüngster Zeit das atomare Desaster von Fukushima. Tetsumi Kudo blieb das Miterleben dieser Massenvernichtung und –verseuchung erspart, doch sein Leben stand im Schatten von viel größeren Katastrophen, nämlich der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Für Kudo stand die atomare Zerstörung für die Selbstvernichtung der Welt. War das der Triumph eines Humanismus, der in Wahrheit das Leben vergiftet und die Grundlagen der Gesellschaft zerstört?

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In mehreren Arbeiten gibt bei Kudo die Philosophie der Impotenz den Ton an. In immer neuen Gewächshäusern und Pflanzbeeten tauchen schlaffe, gefesselte und entsexualisierte Penisse auf, die der Japaner als Boten einer Zeit verstand, in der die Zeugung und Fortpflanzung nicht mehr erstrebenswert sind. Die Menschheit, so Kudos Botschaft, habe nicht länger eine Sonderstellung in der Natur verdient. Den Makel der Zerstörung werden die Menschen nicht mehr los.

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Gleichwohl verliert das Werk von Tetsumi Kudo nicht seine spielerischen Aspekte. Bei aller Düsternis bleiben die durch Dada geprägten Arbeiten bunt und heiter und voller Sehnsucht nach Schönheit. So hat der Künstler eine Serie von Boxen gebaut, die wie aufgeschnittene Würfel erscheinen. Dem größten Objekt ist im Innern ein eigener, abgedunkelter Raum gewidmet. Blickt man durch eine Öffnung hinein, erlebt man eine zauberhafte Welt bunter künstlicher Blumen. Das heißt doch, dass der Traum und die Hoffnung bleiben. Der Wunsch nach Schönheit behält seine Kraft.

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Man muss sich immer wieder vor Augen halten, welche umwälzenden Kräfte in den Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren freigesetzt wurden. Denn als er 1962 seine Arbeit „Die Verwandtschaften der Murmeltiere“ schuf, eine Arbeit, in der Gummipuppen in Einmachgläsern zu sehen waren, da stieß er eine Debatte um die Gentechnik an, die erst Jahre später bei uns die breite Öffentlichkeit erreichte. Ganz ähnlich pionierhaft arbeitete er, als er sich 1971 mit Malerei auseinandersetzte, die mit Hilfe eines Computers verwandelt wurde. Mit einer gerade seherischen Begabung blickte er in eine Zukunft, in der die Grenzen zwischen Natur, Tierwelt, menschlicher Körperlichkeit und künstlicher Existenz aufgehoben werden. In dieser Welt bleiben vom Menschen nur noch Bruchstücke – Hände, Gesichter und immer wieder schlaffe Penisse. Die Botschaft ist klar: Der Mensch, der sich als Souverän der lebendigen Welt verstand, hat sich sein eigenes Grab geschaufelte. Er ist es nicht wert (und auch nicht fähig), sich fortzupflanzen und dem Leben eine Zukunft zu eröffnen. Er hält sich nicht mehr zur Belustigung Tiere und künstliche Wesen in Käfigen und Aquarien, sondern ist in den Käfigen selbst zum Spielmaterial geworden.
Mit dieser Ausstellung verabschiedet sich Susanne Pfeffer für mehr als ein Jahr, um dann 2018 nach der documenta 14 das Fridericianum wieder als Kunsthallen-Direktorin zu übernehmen. Die Kudo-Retrospektive wird dabei zum krönenden Abschluss der im Herbst 2013 begonnenen Ausstellungsreihe, die Grenzerkundungen in unterschiedlichste Richtungen wagte und die vor allem mit „nature after nature“ , „inhuman“ und „Jungle Stripe“ (Anicka Yi) Fragestellungen aufgriff, die der Japaner Kudo bereits in den 60er und 70er Jahren angerissen hatte. Insbesondere Anicka Yis Installation, in der künstliche Pelze Acrylrohre überzogen, wirken wie ein spätes Echo auf Kudos Erfindungen.

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Ergänzend zu der Retrospektive sind in den vier Räumen des Zwehrenturms, an den das Fridericianum angebaut ist, vier Filme von Loretta Fahrenholz zu sehen, die auf eine völlig andere Art und Weise die Welt als Chaos vorführen. Es ist, als wollte Fahrenholz die Zuschauer in einen ständigen Fluss von Assoziationen hineinziehen. Sie zelebriert in dem Film „Que Bárbara“ Abschweifungen. Und da ihr die schnellen Schnitte nicht reichen, öffnet sie in dem Film Fenster, in die hinein sie weitere Filme projiziert.
Der Film „Two A.M.“, der dem ganzen Projekt den Namen gibt, lehnt sich an Irmgard Keuns 1937 erschienenen Roman „Nach Mitternacht“ an, der mit schwarzem Humor den Aufstieg einer Gewaltherrschaft, der Nazis also, schildert. Loretta Fahrenholz gelingt dadurch ein komplexes Spiel mit Alltagsszenen, dass sie in die Sequenzen untergründige Ebenen hineinschiebt. Während sich hier die Ausbreitung der Gewalt in dezenter Weise vollzieht, entsteht in dem Film „Ditch Plains“ das Szenario einer gewalttätigen Apokalypse. Die Wirklichkeit wird zum Abgesang.

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