Archiv für den Monat: Januar 2010

Was gibt’s?

Kunst-Splitter 1

29. 1. 2010 bis 23. 12. 2014

Nochmals Szymczyk und die HNA. Ende voriger Woche erschien in der HNA ein Interview mit Adam Szymczyk (Autor: von Busse). Der Text enthielt keine neuen Aspekte, aber er legte die Annahme nahe, die Zeitung sei zu einem sachlichen Ton zurückgekehrt und habe die Stimmungsmache beendet.

Leider ein Irrtum. Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Streit um den neuen Verwaltungschef des Klinikums werden in einem Artikel die Personalentscheidungen aufgelistet, in denen angeblich Oberbürgermeister Bertram Hilgen falsch oder unglücklich gehandelt habe. Dazu gehört nach Meinung des Autors (Steinbach) die Berufung von Szymczyk. Obwohl in mehreren Erklärungen dargelegt worden ist, dass es seit mehr als 20 Jahren üblich ist, die Suche nach einem documenta-Leiter einer internationalen Findungskommission zu überlassen und dass weder der Oberbürgermeister als Aufsichtsratsvorsitzender noch ein anderes Mitglied des Gremiums sich inhaltlich in die Empfehlung der Findungskommission einmischt, wird nun der SPD-Oberbürgermeister verantwortlich gemacht. Wie stark parteipolitische Aspekte dabei sind, kann man daran ablesen, dass die beiden CDU-Ministerien, die im Aufsichtsrat ebenfalls für Szymczyk gestimmt haben, nie erwähnt oder befragt werden.
Sachliche Berichterstattung ist offenbar zu langweilig. Die documenta wird kommunalpolisch instrumentalisiert. Will der Lokalteil der HNA die documenta 14 als misslungen behandeln, bevor sie eröffnet worden ist?

26. 11. 2014

Vor einem halben Jahr war die Welt noch in Ordnung. Da konnte man sagen, die Menschen in Kassel hätten sich nicht nur mit der documenta als ihrer Ausstellung angefreundet, nein, sie hätten durch den Umgang mit der documenta und den Ausstellungen der Kunsthalle Fridericianum gelernt, mit der zeitgenössischen Kunst umzugehen.
Leider gilt diese Einschätzung nicht mehr. Erst gab es einen Aufstand, nachdem Adam Szymczyk angekündigt hatte, er wolle mit der documenta 14 auch nach Athen gehen. Direkt und indirekt wurde in Stellungnahmen Szymczyks Abberufung gefordert, ohne dass näher untersucht wurde, was eigentlich für 2017 geplant ist und wie klein das Engagement in Athen ist.
Zwei Wochen später gab es den nächsten Aufreger, weil anlässlich der Ausstellung von Farhad Fozouni auf dem Zwehrenturm eine schwarze Flagge mit einem arabischen Schriftzeichen wehte. Auch hier wurde nicht weiter nachgefragt, sondern von vielen (meist anonym im Internet) unterstellt wurde, da wehe die Fahne des Islamischen Staates. Zitat in der HNA am 18. 11., als mitgeteilt wird, die Staatsanwaltschaft habe Ermittlungen in der Sache eingestellt: „ … wurde in der Debatte auf HNA-Online die schwarze Flagge mehrheitlich abgelehnt. Das Schriftzeichen auf der schwarzen Flagge hieß aber nicht wie in einem Debattenbeitrag vermutet „Kalifat Kassel“.
Das muss man nachschmecken: Die Staatsanwaltschaft muss einräumen, dass alle Unterstellungen falsch sind, und gleichzeitig werden noch einmal die Verdächtigungen wiederholt. Selbst die Staatsanwaltschaft macht das mit und lässt verlauten: „Zutreffend ist allerdings, dass beim oberflächlichen Betrachten die Assoziation geweckt werden könnte, die Fahne drücke Sympathie mit IS aus oder werbe in gewisser Weise auch für die Organisation.“

Da muss man sagen, da wären eine Anklage und ein Prozess besser gewesen als ein Einstellungsbeschluss, in dem die Vorwürfe bekräftigt werden. Ein Prozess hätte die Stimmungsmache juristisch greifbar werden lassen.
Diese Form der Verdächtigung veranlasste Kulturinstitutionen und Einzelpersonen eine Stellungnahme zu veröffentlichen. Da in der HNA die Berichterstattung ausschließlich in der Lokalredaktion läuft, wurde in keinem Beitrag aus der Ausstellung heraus gedacht, sondern nur im Sinn des Polizeiberichts. So ist es nicht überraschend, dass der heutige HNA-Kommentar alles für gut und richtig hält.

1. 8. 2014
Harun Farocki ist tot. Der Filmemacher ist nur 7o Jahre alt geworden. Seit Ende der 60er Jahre gehörte er zu den kreativsten und produktivsten Filmregisseuren. Bereits 1970 war er an der legendären Ausstellung „Jetzt“ in Köln beteiligt. Farocki nutzte den Film, um das Medium vor den Augen der Zuschauer zu entzaubern und trotzdem unterhalten zu lassen.
In der documenta hatte er 1997 seinen ersten großen Auftritt, als sein Film „Stillleben“ in das offizielle Filmprogramm im Bali aufgenommen wurde. Die dort gezeigten Filme galten nach dem Selbstverständnis der documenta-Leiterin Catherin David als originäre Kunstwerke. „Stillleben“ schilderte Studioaufnahmen für Werbefilme. Farocki machte dabei bewusst, dass das frühere Genre der Malerei nun von der Werbebranche einerseits perfektioniert, andererseits ausgebeutet wird.
Zur documenta 12 erhielt Farocki einen Platz in der Rotunde des Fridericianums, in der er auf Bildschirmen das Endspiel der Fußball-WM von 2006 zeigte sowie Filmmaterial von der WM, das nicht ausgestrahlt wurde. Farocki dokumentierte damit eine doppelte Manipulation. Einerseits zeigte er andeutungsweise, was unterschlagen wurde, andererseits erweckte er den Eindruck, er würde die Filmaufnahmen systematisch analysieren – was er aber nur dem Anschein nach machte.

16. 6. 2014

Frank Schirrmacher war ein Ausnahmejournalist. Er war ein hinreißender Formulierer, ein wegweisender Denker und ein Zeitungsmacher, der das Feuilleton zum Ort der gesellschaftlichen Debatte machte. Ja, das stimmt, und ich bin froh, ihn über zwei oder drei Jahre hinweg im Kuratorium für den hessischen Kulturpreis als Gesprächspartner erlebt zu haben.

Frank Schirrmacher ist tot, viel zu jung gestorben.

Alles Gründe, ihn als herausragenden Mann zu würdigen. Doch er war kein Übermensch, wie die FAZ vermuten lässt, die ihm am Samstag und am Sonntag jeweils das komplette (erweiterte) Feuillton widmete und am heutigen Montag noch einmal eineinhalb Seiten nachschickte.

Diese Ausführlichkeit grenzt an Maßlosigkeit. Maßlos konnte auch Schirrmacher selbst sein, wenn er meinte, der deutschen Öffentlichkeit ein neues Thema aufzwingen zu müssen. Aber genauso, wie er ein Thema aufgriff, genauso ließ er ein anderes fallen, wenn er die Lust daran verloren hatte. Die Entschlüsselung der Gene, das Altern der Gesellschaft und Cartoons als erzählerisches Medium waren Themen, die bis zum Überdruss serviert wurden, dann aber von anderen verdrängt wurden.

Auch war nicht alles gelungen, was er anpackte. Sein Buch „Ego“ gehörte dazu. Umso peinlicher lesen sich einige Nachrufe aus seinem Mitarbeiterkreis, die ihn ins Göttliche entrücken.

In mancher Hinsicht hatte er die Erdung verloren. So ließ er in den letzten Jahren die Einladungen zu den Kuratoriumssitzungen für den Hessischen Kulturpreis unbeantwortet. Hatte er die Lust an den Beratungen verloren, nachdem er ein oder zwei mal seine Vorschläge durchgebracht hatte, dann aber nicht mehr erfolgreich war? Vor allem wurden seine Redebeiträge vermisst, als das Kuratorium in den ersten beiden Anläufen bei der Preisvergabe an Navid Kermani mehr als unglücklich agierte. Lieber ließ er süffisant seine Redakteure über den Fall schreiben.

Auf die zukunftsorientierten Beiträge, von denen Ministerpräsident Bouffier in seinem Nachruf auf Schirrmacher spricht, haben wir zeitweise vergeblich gewartet. Bouffier konnte allerdings von ihnen nichts wissen: Als Schirrmacher noch an den Sitzungen teilnahm, war Bouffier nicht dabe, und als Bouffier die Sitzungen leitete, erschien Schirrmacher nicht.

24. 4. 2014

Zwei Todesnachrichten. Zweimal Zeit für ein Innehalten.

Wieland Schmied, der große Kunsttheoretiker und Ausstellungspraktiker, ist 85jährig gestorben.
Ein paar mal hat mein Weg zu ihm oder an ihm vorbei geführt. Die erste persönliche Begegnung hatten wir in Kassel, als er zusammen mit Karl Ruhrberg das Terrain inspizierte, um zu überlegen, ob sie beide gemeinsam die documenta 6 ausrichten sollten. Vielerlei Querschüsse, auch aus Arnold Bodes Ecke, ließen sie von dem Plan Abstand nehmen. Aber Schmied war dann 1977 doch dabei. Er war der maßgebliche Kurator für die Abteilung Handzeichnungen, die Schmied unter widrigen Umstände (die wiederaufgebaute Orangerie war feucht) und unter Protest realisierte.
Drei Jahre später erlebte ich ihn in Düsseldorf, wo er im überfüllten Kunstverein eine Ausstellung eröffnete und seine Rede in Gedichtform hielt. Erst später erfuhr ich, dass Schmied als Lyriker sein öffentliches Wirken begonnen hatte.

Dann gab es immer mal wieder Vorträge und Diskussionen, bei denen ich Schmied erlebte. Er hatte sich durch sein Wirken in der Kestner-Gesellschaft Hannover Ansehen, ja, Ruhm erworben.

2000 hielt Schmied in der Kasseler documenta-Halle eine großartige Rede auf den documenta-Vater Arnold Bode anlässlich seinres 100. Geburtstages.
Und schließlich musste ich mit ihm im Zusammenhang mit meinem Nay-Büchlein auseinandersetzen. Der Streit um Nays Beitrag zur documenta 3, der wesentlich in der ZEIT geführt worden war, schien begraben, als Schmied ihn ungewollt neu entfachte. Nays Bewunderer Werner Haftmann hatte in einem Katalog gegen die Kunst der Moderne gewettert und dabei Nay als Kronzeugen aufgerufen. Nay hatte aber mit dem Katalog überhaupt nichts zu tun gehabt. Nun aber fühlte sich Schmied persönlich herausgefordert, griff in einem Beitrag Haftmann scharf an und zog damit Nay in den Streit hinein. Der Maler empfand diese Attacke als Rufmord. Ein halbes Jahr später starb er.

Der zweite Tote ist Hans Hollein, Architekt und Künstler. Er wurde 80 Jahre alt.

Seine wunderschönste Arbeit lieferte er zur documenta 8, als Architekten um ein Modell des idealen Museums gebeten worden waren. Hollein schuf einen kleinen Museumsraum, in dem die Verhältnisse auf den Kopf gestellt wurden. Die Hinweisschilder (Name des Künstlers, Titel des Bildes) waren maßstabsgerecht als Bilder zu bestaunen. Die Bildmotive aber waren auf die Größe der Schildchen geschrumpft. Damit hatte Hollein unsere Schwäche, mehr Aufmerksamkeit den Erläuterungen als den Werken zu widmen, wunderbar getroffen.
Hans Hollein war ein großartiger und eigenwilliger Architekt. Sein Mönchengladbacher Museum, das ein neues Museumserlebnis ermöglichen sollte, war gewagt und wurde ewig nicht fertig. Das Gebäude sollte aus dem Berg heraus wachsen: Man betritt es von oben. So aufregend das Konzept war, so schwierig war es zu händeln. Der Bau war zu sehr auf eine Sammlung ausgerichtet und nicht auf den Wechsel.
Hollein ging aus der Wiener Avantgarde hervor. Er verstand es, Kunst, Design und Architektur zu verbinden. Eines seiner Meisterstücke ist das Frankfurter Museum für Moderne Kunst, das auf einem kaum zu bebauenden Grundstück errichtet wurde und das als Tortenstück triumphierte.
Das Museum funktioniert deshalb so gut, weil es nur in wenigen Räumen durch eine Sammlung besetzt ist, sondern vom Wechsel lebt.

1. 1. 2014
2013 gab es bei dirkschwarze.net 941.000 Seitenaufrufe, 2012 waren es 680.000 gewesen.

29. 11. 2013
Na, wunderbar! Jetzt endlich kommt die Wahrheit über die moderne Kunst ans Licht! Nicole Zepter traut sich, das Tabu zu brechen und uns zu erklären, dass wir Götzen anbeten und uns von Worthülsen blenden lassen. So entwickelt sie in ihrem Buch „Kunst hassen“ eine Anleitung dazu, wie wir uns von dem Blendwerk lossagen und uns selbst trauen, den Mist, den wir als Kunst verehren, Mist zu nennen.
Die HNA erkennt in dem Buch von Nicole Zepter wohl gedankliche und sprachliche Schlampereien und mancherlei Irrtümer, aber sie räumt dem Kunst-Hasser-Buch erst einmal viel Platz ein und nimmt den Ball auf, mit dem die Autorin durchs splitternde Fenster des Museum Fridericianum geschossen hat. Sie lädt für den 15. Dezember, 16 Uhr, mit in den Kasseler Kunstverein ein, in dem dann darüber diskutiert werden soll, ob man moderne Kunst hassen darf, soll oder muss. Zur Vorbereitung werden die Leser gebeten, unter dem Stichwort „Kunst hassen“ zu berichten, ob man bei der Begegnung mit Kunst Glücksgefühle gehabt habe, geweint habe oder wütend geworden sei.

Dieser Aufruf verheißt nichts Gutes. Erfahren habe ich das anlässlich der documenta 7, als wir in der HNA-Kulturredaktion beschlossen, nicht nur Lieblingskunstwerke vorzustellen, sondern auch mal Zitronen für Enttäuschendes zu verteilen. Die Reaktion der Leser war einhellig: Endlich schrieben wir in unserem kritischen Bericht unsere wahre Meinung – nämlich, dass wir von der modernen Kunst auch nichts hielten.

Ähnliches ist nun zu erwarten. Ein Jahr nach einer documenta, die der Kunst wieder einen festen Platz in der öffentlichen Diskussion zugewiesen hat und in der die Kunst aus ihrer Selbstbespiegelung herausgefunden hat, werden nun die Kunsthasser eingeladen, kübelweise Mist abzuladen.

Hoffentlich geht nicht allzuviel zu Bruch.

15. 10. 2013

Geschichte, heißt es, wiederholt sich nicht. Manchmal schon: Das Museum Fridericianum, das das erste für die Öffentlichkeit gebaute Museum auf dem europäischen Kontinent war, wurde 1979 200 Jahre alt. Die Staatlichen Museen (heute: Museumslandschaft Hessen Kassel) nahmen den Geburtstag zum Anlass, die wechselhafte Geschichte des Gebäudes aufzuarbeiten und eine Ausstellung vorzubereiten. Immerhin ging es darum, das klassizistische, von Simon Louis du Ry geplante Bauwerk als das Haus der Aufklärung zu feiern.

Dummerweise wurde genau in dem Jahr, in dem der Geburtstag anstand, das Fridericianum endgültig ausgebaut. Dass damals wegen der angedachten, später aber nicht verwirklichten teilweisen Nutzung als Technikmuseum wichtige Qualitäten des Gebäudes verloren gingen, soll nur am Rande erwähnt werden. Entscheidend war 1979: Die Ausstellung zur Würdigung des Gebäudes konnte genau an dem Ort nicht gezeigt werden, an dem sie Sinn ergeben hätte – nämlich im Fridericianum. Also musste man Ersatz suchen und die barocke Orangerie als Ausstellungsort wählen.
34 Jahre später stand bei der Museumslandschaft Hessen Kassel wiederum ein Geburtstag an. Das von Theodor Fischer – parallel zum Landesmuseum Wiesbaden – entworfene und gebauteHessische Landesmuseum Kassel wurde in diesem Jahr 100 Jahre alt. Wiederum wurde die Planungsgeschichte aufgearbeitet und wurden architektonische Perspektiven für die Öffentlichkeit dokumentiert. In der Tat waren der Charakter und die Schönheit des Gebäudes durch Ein- und Umbauten lange Zeit verborgen geblieben. Erst unter Hans Ottomeyer setzte die Wiederentdeckung des Ursprungs ein.

Was liegt näher, als aus diesem Anlass eine Ausstellung zu planen?

Nur dummerweise ist das Landesmuseum am Brüder-Grimm-Platz derzeit Baustelle, weil das Haus generalsaniert und umgebaut wird. Die Ausstellung verschieben? Nein. Schließlich will man die Vorfreude auf das erneuerte Landesmuseum wecken. Also muss die Ausstellung dieses Jahr gezeigt werden – an einem Ort, an den sie am wenigsten gehört und am schlechtesten passt, nämich in den Sonderausstellungsräumen der Neuen Galerie. Nun hätte ja die Verlagerung einer kulturhistorischen Ausstellung in ein Kunstmuseum dazu verleiten können, einen Künstler/ eine Künstlerin mit der Inszenierung zu betrauen. Nein, soweit ging die Planung nicht. Also wurde eine traditionell brave Tafel- und Foto-Ausstellung zusammengestellt, in die ein paar inszenierte Räume eingestreut wurden.
Die Ausstellung ist zu langatmig, hätte zugespitzter und lebendiger sein müssen und hätte gut um 30 Prozent konzentrierter sein können. Ärgerlich ist, dass dafür die jüngsten documenta-Erwerbungen weggesteckt wurden.

19. 9. 2013

Marcel Reich-Ranicki ist tot. Der große Kritiker, der schon als junger Mann den Tod vor Augen hatte, der nur mit einem an Wunder grenzenden Glück den Nazi-Schergen entkam, starb 93jährig. Er liebte und verteidigte die deutsche Sprache, obwohl er unter den Deutschen litt.Es wirkt wie eine späte Rache, dass er, dem von Deutschen das Lebensrecht abgesprochen wurde, zum alleinigen Star der deutschen Literaturkritik wurde. Hervorragend zu lesen in seiner Autobiographie „Mein Leben“. Berühmt und populär wurde er durch seine TV-Sendung „Das literarische Quartett“. Ich mochte die Sendung zeitweise überhaupt nicht. Mir gefiel nicht seine Maßlosigkeit, mich störte, wie er sich in eine vernichtende Kritik reinsteigern konnte und wie er von einem Buch schwärmte, wenn es auch erotisch prall war. Aber meine Bewunderung für ihn ist nach der Lektüre seiner Autobiographie „Mein Leben“ enorm gestiegen. Dieses Buch brachten Reich-Ranicki und mich 1999 für einen Abend zusammen. Die Buchhandlung Lometsch, die es nicht mehr gibt, die aber die einzige in Kassel mit einem respektablen Kunstbuchangebot war, hatte Reich-Ranicki zu einer Lesung in das Anthroposophische Zentrum eingeladen. An mich erging die Bitte, zu der Lesung eine Begrüßung zu sprechen und den Autor vorzustellen. Die Anfrage ehrte mich sehr, doch hatte ich einen gewissen Bammel: Würde der polternde Kritiker mich und meine Worte akzeptieren? Ich hatte zwar meine Rede schriftlich vorbereitet, um dann frei sprechen zu können, wollte aber Reich-Ranicki vorher kurz sprechen, um einen persönlichen Eindruck zu gewinnen und ihm auch Gelegenheit zu geben, den Eröffnungsredner kennen zu lernen. Die Lesung war für 19.30 Uhr angesetzt, und ich stand ab kurz vor 19 Uhr am Eingang zum vollbestzten Saal, um ihn abzupassen. Doch die Minuten verrannden. Um 19.25 Uhr begab ich mich zu meinem Platz in der ersten Reihe, mutmaßend, ein Gespräch komme nicht mehr zustande. Dann, kurz nach halb, wurde ich rausgewinkt. Reich-Ranicki sei nun da und erwarte mich in einem Nebenraum zum Gespräch. Drei andere Personen schlossen sich an. So waren wir zu fünft, und Reich-Ranicki fragte unwirsch, was das solle, dass für fünf Personen nur drei Stühle da seien? Ob man nicht noch Stühle holen könnte? Mir schwante Fürchterliches. Auch wollte ich ihn ja allein sprechen. Zum Glück gingen die anderen, und – welche Überrascung – es entspann sich für fünf bis sieben Minuten ein sachlich aufschlussreiches und freundliches Gespräch über den unglaublichen Erfolg des Buches, über Bestseller und seine Rolle als Autor. Jetzt war alles wieder im Lot. Wir konnten in den Saal und ich auf die Bühne, wobei es mir gelang, meine Rede frei vorzutragen und ihn als Zuhörer zu gewinnen. Die zweite Begegnung war zwei, drei Jahre später telefonischer Art. In der Woche hatte ich gerade einen Bericht über jemanden im Radio gehört, der es liebt, mit verstellter Stimme sich als Prominenter auszugeben. In der Redaktion ging das Telefon. Am anderen Ende meldete sich Reich-Ranicki. Er rufe aus einem Hotel an der Ostsee an. Reich-Ranicki ruft mich an? Das kann nicht sein, dachte ich. Das ist vorgetäuscht. Also antwortete ich wortkarg, um nicht aufzufallen. Aber vielleicht ist er es doch. Er wollte nämlich Auskunft üner ein in einem Selbstverlag in Hann. Münden erschienenes Buch, in dem Reich-Raniki vorkommen sollte. Ich sagte dem Anrufer meine Hilfe zu, suchte die Unterlagen heraus und ging dann damit zu meinem Kollegen Werner Fritsch mit der Bitte, er möge beim Rückruf herausfinden helfen, ob der Anruf echt oder simuliert war. Ja, das war Reich-Ranicki, sagte er.

7./9. 8. 2013

Am Dienstag dieser Woche wurden die Leser der HNA in Kassel belehrt, dass die frisch zum Welterbe gekürten Wasserspiele aus Kapazitätsgründen leider nicht häufiger als zweimal die Woche (mittwochs und sonntags um 15.30 Uhr vom Mai bis 3. Oktober) laufen könnten. Die Faszination der Wasserspiele liege eben darin, dass sie ausschließlich aus natürlichen Quellen oberhalb des Herkules gespeist würden. Ließe man sie häufiger laufen lassen, bestünde die Gefahr, dass im Herbst nicht mehr genügend Wasser vorhanden sei.

Soweit so gut. Als aber tags drauf die HNA-Leser erfuhren, dass es just an diesem Dienstag für den Ministerpräsidenten Volker Bouffier eine Sondervorstellung der Wasserspiele gegeben habe, meldeten sich natürlich die ersten Kritiker zu Wort: Warum sei für den Ministerpräsidenten möglich, was eigentlich gar nicht gehe.

Nun wurde richtig gestellt: Die Sprecherin der Museumslandschaft Hessen Kassel (mhk.), zu der auch der Bergpark mit den Wasserspielen gehört, erklärte, dass es genügend Reserven für Extra-Vorstellungen gebe – etwa für die beleuchteten Wasserspiele am ersten Samstag im Monat oder (gegen Bezahlung) für Betriebsausflüge und Hochzeiten. Also sei das Reservoir durch die Extra-Vorstellung nicht gefährdet gewesen. Im übrigen habe man nur einen Teil der Wasserspiele laufen lassen. Die Vorführung sei ein Geschenk für den Ministerpräsidenten gewesen.

Einen Tag später legte der Sprecher Bouffiers nach: Der Ministerpräsident habe die Vorführung der Wasserspiele nicht gewünscht. Im übrigen habe Bouffier, den Bergpark und die Wasserspiele nicht als Wahlkämpfer besucht, sondern als Ministerpräsident, der sich auf seiner Sommerreise durch Hessen befinde. In der Tat war offenbar die Meldung der HNA eine Ente, Bouffier sei mit dem Wahlkampfbus unterwegs gewesen. Sein schwarzer Bus wies keinerlei Werbung auf.

So steckt hinter der Geschichte kein Skandal. Eher verrät der Fall, in welche missliche Lage der Regierungschef durch den vorauseilenden Gehorsam seiner Umgebung gebracht wird. Irgendjemand wird die Idee gehabt haben, dass man den Ministerpräsidenten bei seinem Kassel-Besuch mit einer Kostprobe der Wasserspiele erfreuen könne. Die Idee fand Anklang, und die mhk. bereitete alles für die Vorführung vor. Außerdem waren der Direktor der mhk., Prof. Bdernd Küster, und der oberste Denkmalschützer Hessens, Prof. Gerd Weiß, zur Stelle, um ihrem Dienstherrn die notwendigen fachlichen Erläuterungen zu geben.

Wie einfach wäre es doch gewesen, man hätte die Stippvisite Bouffiers auf den Mittwoch verschoben, dann wären die Wasserspiele sowieso gelaufen, dann hätte der Ministerpräsident (und Wahlkämpfer) ein großes Publikum gehabt und dann hätte sich gar kein Nebengeschmack eingeschlichen.

27. 5. 2013

Der Kasseler Kunstverein hat eine Ausstellung zu Nam June Paik eingerichtet, die insofern ungewöhnlich ist, als der Video-Pionier ohne Video-Arbeiten präsentiert wird. Beim Nachdenken wird die Entscheidung logisch. Denn mit den großen Video-Intallationen hätte die Ausstellung weder aufwarten noch konkurrieren können. So macht es Sinn, dass von Paik ganz andere Seiten vorgestellt werden – Originale (vorwiegend Papierarbeiten), Editionen und Dokumente aus der Sammlung Wenzel. Das, was normalerweise nebenher läuft oder untergeht, rückt hier nun ins Zentrum. Die Folge: Wir lernen Paik als einen Sprach- und Bildkünstler kennen, der bilderreich über die Medien, die Wahrheit, die Stille und die Leere nachdenkt und dabei vorwiegend heitere Ansichten präsentiert. Auch wenn die Bilder dominieren, ist es eine Lese-Ausstellung geworden. Man muss den Zeichnungen, Collagen, Drucken und anderen Objekten ihre Botschaften entlocken. Immerhin: In sehr vielen Arbeiten geht es dann aber doch um Videos.
Paik1986 Paik76
Eingerichtet hat die Ausstellung Jürgen O. Olbrich vom scheidenden Kunstvereins-Vorstand und selbst ein Künstler, der in der Mail- und Fluxus-Kunst seine Heimat hat. Zusammen mit dem Sammler Wenzel hat Olbrich zwei Ebenen aus dem Werk von Paik zusammengeführt. Da sind einmal die Bilder, die vom Dada-Geist durchweht werden, und da sind aphorismenartige Zeilen und Sätze, die immer wieder erheitern, nachdenklich machen oder provozieren.

Wenzel und Olbrich haben diese beiden Ebenen verknüpft. Also findet man unter jedem Bild einen Text, der mal die Bildaussage bekräftigt und mal das Gegenteil behauptet. Das ist amüsant und vielschichtig, aber auch sehr gefährlich.

Mag sein, dass Paik eine große Freude an dieser Inszenierung hätte, doch im Grunde ist das keine Paik-Ausstellung mehr, sondern ein Gemisch, das Olbrich und Wenzel aus dem vorhandenen Material angerührt haben. Denn Texte und Bilder stammen aus ganz verschiedenen Zusammenhängen.

Die in großer Schrift unter die Bilder geklebten Texte kommentieren die Bilder und lenken die Aufmerksamkeit in eine Richtung, die oft mit dem Bild nichts zu tun hat. Dem Video-Pionier, der, wie man sieht, auch ein richtiger Sprachkünstler war, kommt man unverstellt nur nahe, wenn man sich die Bilder alleine anschaut und dann in einem zweiten Rundgang die Texte liest (oder umgekehrt).

Wenn man aber darauf besteht, beide Ebenen zusammen zu sehen, kann man sich gut unterhalten – auf Kosten von Paik. Denn eine Ausstellung mit Originalen sieht anders aus.

8. 5. 2013

Ein Austausch von Mails. Anlass ist meine im Kunstforum veröffentlichte Kritik der Ausstellung „Farbe bekennen“ im Herforder Museum MartA.
Ich wusste, dass ich nicht alle Beiträge zur Ausstellung besprochen habe. Doch das Übersehen der Arbeit von Christoph Büchel geschah nicht absichtlich. Dabei war der Raum, der als ein großes Breker-Atelier angelegt war, so konzipiert, dass er ins Auge stechen musste. Doch ich muss zugeben, dass ich Büchel auf den Leim gegangen bin, indem er seine Teilnahme an der Ausstellung (Katalog, Künstlerliste) verschwieg. Ich hatte zwar begonnen, den Raum zu erkunden, ließ mich aber durch das Foto-Verbot irritieren und von den anderen Räumen so faszinieren, dass ich am Ende nicht versuchte, herauszufinden, was mit dem Raum beabsichtigt war.

Marta-Farbe Foto: Kiel-Steinkamp

Nun erhielt ich von Museumsdirektor Roland Nachtigäller eine freundliche Mail, die meine Unterlassung dokumentierte. Die Mail und meine Antwort gebe ich leicht verkürzt hier wieder:

Guten Morgen, Herr Schwarze,
gestern habe ich Ihre Ausstellungsbesprechung zu „Farbe bekennen“ für das Kunstforum gelesen – wie immer differenziert und klug. Herzlichen Dank für Ihr Interesse!

Ich kann nicht beurteilen, ob Ihnen dabei der „museumspädagogische“ Workshop von Christoph Büchel entgangen ist oder ob Sie ihn bewusst außen vor gelassen haben. Ein Übersehen dieses Beitrags, der weder im Katalog, noch auf der Einladung oder in der Künstlerliste erwähnt werden durfte, war allerdings von Büchel auch bewusst einkalkuliert. Für den Fall, dass es Sie aber auch im Nachhinein noch interessiert, was dort stattgefunden hat, hänge ich Ihnen mal zwei Seiten eines Textes an, der das Projekt im letzten Abschnitt ganz gut beschreibt. Ansonsten finden Sie auch noch eine Auswahl von Pressereaktionen auf unserer Homepage verlinkt (auf der Ausstellungsseite unter „Museumspädagogik“), u.a. auch die empörte Reaktion von Stefan Lüddemann (NOZ).
Ich würde mich freuen, wenn ich Sie bei Ihrem nächsten Besuch dann auch wieder persönlich hier im Hause begrüßen dürfte. Melden Sie sich gerne – wenn ich in der Stadt bin, schauen ich problemlos auch am Wochenende im Museum vorbei.

Mit herzlichen Grüßen,
Ihr

Roland Nachtigäller

Lieber Roland Nachtigäller,

ja, da bin ich leider Opfer von Christoph Büchels Strategie geworden. Sie können ihm das gerne auch mitteilen, dass ich nicht genügend Hartnäckigkeit aufbrachte, der Sache auf den Grund zu gehen.

Natürlich habe ich den Raum fragend wahrgenommen und ihn als provokative Installation (Versuchsübung) der Museumspädagogik vermutet. Ich gebe zu, dass, nachdem ich gebeten worden war, dort während des laufenden Workshops keine Fotos zu machen, zu schnell aufgegeben habe, weiter zu forschen. Bei genauem Nachdenken hätte mir gewiss klar sein müssen, dass der Raum zu dem Ausstellungsensemble „Farbe bekennen – Was Kunst macht“ gehört. Allerdings muss ich auch sagen, dass die Arbeiten von Hirschhorn, Korpys/Löffler und Aernout Mik mich innerlich so beschäftigten, dass ich darüber den Breker-Raum vergaß – zumal der Katalog mich beim Schreiben auch nicht daran erinnerte.

Im Grunde liebe ich solche Spielchen und hätte eigentlich durch Büchels Kasseler Ausstellung „Deutsche Grammatik“ vorbereitet sein müssen. Hätte ich einen korrekten Hinweis bekommen, wenn ich nicht so eitel gewesen wäre, die Aufsicht darauf anzusprechen?

Merkwürdigerweise fand ich die Präsenz der Breker-Skulpturen in einem Atelierraum gar nicht so überraschend. Das hängt damit zusammen, dass ich dabei bin, meine Artikel einzuscannen und auf meinem Internet-Blog dirkschwarze.net online zu stellen, und dass ich nur wenige Tage zuvor mehrere Texte zu meiner langjährigen Auseinandersetzung mit Arno Breker eingescannt hatte. Gerade zu der Zeit, als es in Düsseldorf Bemühungen gab, ein Heinrich-Heine-Denkmal von Arno Breker vor dem Düsseldorfer Schauspielhaus aufzustellen, war ich der zuständige Redakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf. In der Zeit war ich auch einmal im Haus und Atelier von Breker – bevor ich von ihm beschimpft wurde. Wenn Sie Lust haben, können Sie das in meinedm Blog nachlesen.

Umso mehr ärgert es mich, in die Falle getappt zu sein und versäumt zu haben, mich damit auseinanderzusetzen.

Mit herzlichem Gruß

Dirk Schwarze

7. 1. 2013

Im Jahr 2012 wurden für den Blog dirkschwarze.net 268.000 Besuche und 680.000 Seitenzugriffe registriert. Besonders gefragt waren natürlich die documenta-Themen.
Die gefragtesten Seiten waren:
Was hat die Neue Galerie zur documenta?
Die dOCUMENTA (13) hat ihren Aufreger
Zerbrochenene oder unfertige Freiheit?
Abbild – Abdruck – Transformation
Gang durch die Ausstellung: documenta-Halle
Gang durch die Ausstellung: Fridericianum
Gang durch die Ausstellung: Neue Galerie
Dali, der Tod und die Unsterblichkeit
CCB in conservation with d.s.
Gang durch die Ausstellung: Innenstadt

18. 11. 2012

Der Penone-Baum „Idee die Pietra“ (Ansichten eines Steins) bleibt in Kassel. Ermöglicht wurde der Ankauf durch eine Spendenaktion, die documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld organisierte und die relativ lautlos zum Erfolg führte. Die Ankaufssumme will Leifeld nicht nennen, da der Künstler aus Begeisterung für die Liebe der Kasseler für sein Werk einen Extrapreis gemacht hat. Man kann von einer sechsstelligen Summe ausgehen. Damit ist zum zweiten Mal ein documenta-Kunstwerk auf eine Bürgerschaftsiniative hin angekauft worden. 1992 hatten sich die Kasseler für Jonathan Brofskys „Man Walking to the Sky“ stark gemacht und eine Spendeninitiative in Gang gesetzt, die allerdings erst mit Hilfe von Kulturstiftungen zum Erfolg führen konnte.

Penone 2 Penone 4 Penone 6 Penone 11

Für die Kasseler gehört Penones Baum mittlerweile zum Stadtbild. Denn schließlich steht dieses Werk bereits seit dem 21. Juni 2010 auf einer Wiese unterhalb des Rosenhangs in der Karlsaue. Penone, der diese Arbeit auch 2008 in Sydney zur Biennale präsentiert hatte, war damit der erste Künstler überhaupt, der seinen documenta-Beitrag schon zwei Jahre vor Beginn einer documenta installieren konnte.

Giuseppe Penones „Idee di Pietra“ ist ein Gegenstück zu den „7000 Eichen“, die Joseph Beuys zur documenta 7 in Kassel pflanzen ließ. Während Beuys einen wachsenden Baum neben eine gewachsene Basaltstele setzte, entschied sich Penone für den Bronzeabguss eines Walnussbaumes, dessen Äste stark gestutzt sind, der im Geäst einen zwei Tonnen schweren Findling träft und dem eine kleine Ilux-Stechpalme hinzugesellt wurde.

Carolyn Christov-Bakargiev und Giuseppe Penone hatten das Beuys-Projekt sehr wohl im Sinn, als sie sich für diesen Bronzebaum entschieden. Zudem war der zwei Jahre vor der dOCUMENTA (13) aufgestellte Baum so etwas wie ein Versprechen für die Kasseler Kunst- und Naturfreunde: Der Baum sollte verheißen, dass die documenta-Leiterin hier Wurzeln schlagen wollte und dass die Ausstellung den Auepark einbeziehen sollte.

Das Werk ist einerseits der Natur eng verbunden, weil der Baum aus der Ferne so wirklich und natürlich wirkt und andererseits bleibt es durch den massiven Findling im Geäst rätselhaft. Hat der Baum den Stein hochgedrückt, ist der Stein vom Himmel gefallen oder von einer Flutwelle hochgetragen worden? Aber bei aller Rätselhaftigkeit entfaltet der Baum eine feine Poesie. Fast wirkt er so, als hätte er immer dort gestanden.

Um den Standort wird noch ein Streit entbrennen. Schon frühzeitig hatte die Museumslandschafdt Hessen Kassel (mhk.) verlauten lassen, die Karlsaue müsse frei von documenta-Werken auf Dauer bleiben. Damals war aber noch gar nicht zu erwarten, dass eine Ankaufsinitiave erfolgreich sein würde. Bis zum Frühjahr 2013 wird der Baum dort erst einmal stehen bleiben können. Da das Kunstwerk aus der Ferne eher wie ein Bestandteil der Parkarchitektur erscheint, müsste man noch einmal darüber reden können, zumal diese Wiese außerhalb der prägenden Sichtachsen, am Rande der Karlsaue, steht. Etwas anderes wäre, wenn der Gartenhügel von Song Dong oder die Wasserwelle von Massimo Bartolini hätten verbleiben sollen.

10. 11. 2012

Zum zweiten Mal in der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, deren Name von Christa Wolf entliehen ist: Der geteilte Himmel.

Ein programmatischer Titel, denn er steht für die Zusammenfügung der Kunst von 1945 bis 1968, die aus zwei Lagern bestand – aus der Westkunst und der Ostkunst. 1977 prallten die beiden Kunstwelten erstmals aufeinander – in der documenta 6. Versöhnt sind sie bis heute nicht. Aber die Neue Nationalgalerie ist beiden Richtungen verpflichtet und muss sie sammeln.

Aber die Gewichte sind ungleich verteilt. Die Westkunst, die die Abstraktion und die Erweiterung des Kunstbegriffs propagiert, tritt in aller Breite und weltoffen auf; sie bezieht auch die Werke aus den westlichen Nachbarländern und den USA mit ein. Die realistisch-melancholische Ostkunst hingegen bleibt auf die Repräsentanz der DDR beschränkt: Sieger und Verlierer, Weltläufigkeit und Provinzialität. So ist der Eindruck. Die Großformate und die Pop-art triumphieren. Ganz groß heraus kommt Thomas Bayrle, der für sein Lebenswerk und den Beitrag in der documenta-Halle zum Abschluss der documenta den Arnold Bode-Preis erhielt. Sein Mao-Bild und seine Kartoffelzähl-Tapete dominieren das Zentrum der Schau.

Mao 1 Mao 2

Aber noch einmal zum Auftakt der Ausstellung. Es handelt sich um den zentralen Raum, die Keimzelle. Hier muss die Stunde Null verortet sein, hier ist der Beginn für die beiden Entwicklungsstränge. Hier gibt es noch Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte.

Was die Westkunst angeht, sind in diesem Raum Künstler versammelt, von denen auch einige in der ersten documenta vertreten waren. An diese documenta von 1955 erinnert auch die Inszenierung: Ein großer Teil der ausgestellten Bilder ist mitten im Raum installiert – eingepasst in schwarze Eisengerüste, die die Bilder tragen und die den Raum strukturieren. Die Bilder bewegen sich an der Grenze zum Objekthaften. Genau das hatte auch Arnold Bode im Sinn gehabt, als er 1955 die documenta einrichtete und in dem Schwarz-Weiß-System der Wände und Balken an etlichen Stellen Eisenträger aus den Wänden herauskommen ließ, an denen er Gemälde befestigen ließ. Die Bilder wurden zu plastischen Arbeiten, die den Raum in Besitz nahmen.

Aufgeständerte Bilder

5. 11. 2012

Nein, befreundet waren und sind wir nicht, aber doch ein wenig mehr als nur bekannt. Seit 32 Jahren haben sich immer wieder unsere Wege gekreuzt, hatten wir miteinander zu tun und haben zwanglos unsere Gespräche fortgesetzt. Jetzt hat sich Kasper König aus der Direktion des Kölner Ludwig Museums verabschiedet, um als Pensionär in Berlin und Brüssel seine Ideen und Tatkraft einzubringen. Swantje Karich hat ihm in der FAZ einen wunderschönen Abschiedsartikel gewidmet: Königs letzter Tag im Museum Ludwig. Ein treffendes Porträt.

Nach der Lektüre stellte sich sofort die Erinnerung an unser erstes Gespräch in Köln ein. Karl Ruhrberg, der damalige Direktor des Museums Ludwig, hatte mir von der für 1981 in der Kölner Messe geplanten Ausstellung „Westkunst“ berichtet und mir den Tipp gegeben, mit dem Kurator der Ausstellung, Kasper König, zu sprechen.

Das Büro, in das mich König einlud, war provisorisch, eng und vollgestopft mit Zeitungen, Katalogen und Papieren. Inmitten dieses Chaos entwickelte König vor mir den Plan einer Ausstellung, die die Kunst aus dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts neu gewichtigen wollte. Das Geheimnis dieser brillanten Schau lag darin, dass nicht länger das Jahr 1945 zum Ausgangspunkt (und zur Bruchlinie) gemacht wurde, sondern das Jahr 1939. Diese nur minimale Verschiebung aber eröffnete neue Horizonte. Ich erinnere mich an großartige Meisterwerke von Picasso und Klee, an Henry Moores Zeichnungen aus den Bunkern und an Magrittes „hässliche Bilder“ aus den späten 40ern.

Die Ausstellung war ein Gegenstück zur ersten documenta. König und Laszlo Glozer gelang ein Ausnahmeereignis.

Die Verantwortlichen dachten auch – wie die documenta-Macher – an Fortsetzung. Die angeschaffte Innenarchitektur sollte wiederverwendet werden können. Doch die Fortsetzung gab es in Köln nicht, sondern in Düsseldorf, wo wiederum König in der Ausstellung „von hier aus“ zeigte, dass man auch in der Hülle einer Messehalle großartige Künstlerräume gestalten kann.

„Westkunst“ und „von hier aus“ gaben Gelegenheit zu mancherlei Treffen.

Dann sahen wir uns wieder im Vorfeld der documenta 8. Schon vorher war König wiederholt als documenta-Macher im Gespräch gewesen. Nun war er (wieder zusammen mit Glozer) offizieller Bewerber. Doch seine Vorstellung war nicht glücklich und blieb erfolglos, obwohl er eine faszinierendere Ausstellung präsentiert hätte, als sie 1987 zu sehen war.

Richtig intensiv und eng wurden unsere Kontakte, als König von der Düsseldorfer Kunstakademie an die Frankfurter Städelschule wechselte und er mit der Gründung des Portikus, der Mitwirkung an der art Frankfurt und durch Berufungen an die Städelschule die Frankfurter Kunstlandschaft aufmischte und Frankfurt für einige Jahre zu einem Energiezentrum aktueller Kunst werden half. In diesen Jahren gab es viele Telefonate, Kartengrüße und erhellende Gespräche.

In diese Zeit fiel auch der Plan, in Kassel im Fridericianum eine Diskussion zur documenta zu veranstalten. Der Kunstverein und die Kunsthalle waren zur Mitwirkung bereit, HNA-Verleger Rainer Dierichs sicherte die Finanzierung, und ich durfte das Podium zusammenstellen – mit Tilman Osterwold (damals Leiter der Kunsthalle Fridericianum), Werner Schmalenbach (ehemaliger Direktor Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen) und Kasper König. Ich sollte moderieren.

König war sofort bereit, zu kommen. Schwieriger war es mit Schmalenbach. Als der endlich zugesagt hatte, bestätigte König nochmals seine Mitwirkung. Er würde auch meinetwegen umsonst kommen, wenn aber Schmalenbach 1000 Mark Honorar bekäme, wolle er ebenso viel bekommen. König bekam die 1000.

Dann Wiedersehen zur Eröffnungsausstellung in Köln und beim Treffen der Findungskommission für die documenta 13, deren Sprecher König war. Es ist fast tragisch, dass Königs Rat zur documenta gern angenommen wurde, er selbst aber nicht die Chance erhielt, eine documenta zu machen.

Gleichwohl ist Kasper König Kassel und der documenta zutiefst verbunden. Schließlich hatte er hier 1972 Claes Oldenburgs Mausmuseum geleitet.

Und dann ein hübsches Einverständnis: Irgendjemand hatte König auf meinen Text „Fundstücke 1 – Richters Bilder nach Gorleben?“ aufmerksam gemacht. Er fand ihn so amüsant, dass er seinerseits Richters Blick darauf lenkte und beide ihren Spaß daran hatten.

12. 12. 2011

Ein notwendiger Nachtrag (vom 21. November). Ich bin ihm einer meinen beiden Lieblingsautoren der FAZ schuldig. Da hat Dieter Bartetetzko in seinem schwärmerischen Bericht über die Frankfurter Replikenschau „Tutanchamun“ mal wieder eine unvergleichliche Bilderflut losgetreten. Wir sind, so verkündet schon der Titel („Als hätte Tuts Hofstaat die Staubwedel geschwungen“), ganz nahe am Alttag.

Ich hoffe, Sie teilen meine Begeisterung:

„… und seine Gattin Nofretete, die Rätselschöne mit der azurblauen Kronhaube, kennt sogar, wer Kairo für eine Zigarettenmarke und Memphis für die Stadt Elvis Presleys hält. Nur ihr Schwiegersohn Tutanchamun übertrifft sie: Die Konturen seiner Goldmaske genügen, und von Las Vegas bis Limburg erkennt jeder den jung gestorbenen Pharao,… Genauer betrachtet aber ähneln die vertrauten Züge auf den Plakaten dem Teenie-Idol Justin Bieber oder Robert Pattinson, dem blassen Romeovampir, der derzeit die globale Weiblichkeit zwischen elf und siebzehn verhext….

Was die Krimonologie als Fahndungsmaterial nutzt, versagt hier: Tutanchamun schaut zwar bestürzend lebendig aus, aber auch wie ein mürrischer Justin Timberlake, dem ein Visagist zu viel Lipgloss aufgetragen hat. Folge unserer Simulationsära, die kaum noch zwischen virtueller und realer Welt scheidet?“

24. 8. 2011

Eine verstörende Nachricht: Vettor Pisani, italienischer Künstler, der zur Arte povera gerechnet wurde, hat sich in seiner Wohnung erhängt. Welche Leiden und Schicksale verbergen sich hinter dieser Nachricht?

Vettor Pisani war einer der Künstler, die 1972 in der documenta das überlieferte Bild der Kunst zerstörten, indem er die Aktion wichtiger werden ließ als das fertige Werk. Er war ein Pionier der Performance. Nachdem im Zeit-Magazin das Foto einer nackten Frau von Pisanis Performance zu sehen gewesen war, strömten die Besucher erwartungsvoll in Pisanis Kabinett im Fridericianum. Doch die meisten wurden enttäuscht, weil sie an Stelle einer Nackten nur ein gespanntes Drahtseil mit einer Kette, eine Uhr, die italienischen Nationalfarben und kleinere Apparaturen sahen. Sie hatten nur die Requisiten der Performance vor Augen. Und da sie nicht darauf vorbereitet waren, dass die Performance zeitlich begrenzt ist, reagierten viele empört.
Performance 1972

Die angekettete Nackte (die Schwester des Künstlers) galt damals als Provokation. Dabei wurde von vielen die eigentliche Provokation übersehen – die Anklage von Foltermethoden und die Nähe es italienischen Staates zum Faschismus.

Pisani war regelmäßig an der Biennale von Venedig beteiligt. Zuletzt arbeitete er an einem Großprojekt – an dem Ausbau einer Felshöhle bei Siena zu einem Ort des Dialogs und der Kontemplation.

17. 7. 2011

Der Fritzlarer Bahnhof – ein Kulturdenkmal

Fritzlar Bahnhof 1 Fritzlar Bahnhof Räder müssen 1 Blumen 1

Fritzlar, Bonifatiusstadt, katholisches Zentrum im protestantischen Nordhessen. Zum ersten Mal am Bahnhof, um von dort aus mit dem Zug nach Bad Wildungen zu fahren, um von dort aus über den Ars Natura zurück nach Fritzlar zu wandern.
Beim Aussteigen aus dem Auto fällt der erste Blick auf die Backsteinwand mit den beiden kaputten Glasfenstern und auf das unterhalb der beiden Fenster angebrachte Schild „Luftschutzraum“. Ein akkurat gezeichneter Pfeil weist den Weg zur Kellertreppe.
Sind wir in einer anderen Zeit angekommen? Unsere Frage scheint berechtigt zu sein, denn bei der Suche nach weiteren Hinweisen auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs entdecken wir drei Wandabschnitte auf der Stadt- und auf der Bahnsteigseite, auf denen in schwarzer, leicht verblassender Schrift zu lesen ist „Räder müssen Rollen für den Sieg“. Haben wir den Krieg immer noch nicht verloren?
Luftschutzraum Stellwerk 1 Stellwerk 2 Stellwerk 3

Offenbar ist schon mal versucht worden, diese Überlebensparole der Nazis zu übermalen. Doch die alte Boschaft setzte sich wieder durch. Auf der Bahnsteigseite prangt der Schriftzug über einem Tor und muss sich gegen ein Graffiti behaupten.
Wie lange bleibt ein solches Relikt noch unkommentiert?
Allerdings ist jetzt zu hoffen, dass die Nazi-Parolen nicht einfach getilgt werden, sondern bewahrt und erläutert werden. Der Bahnhof ist nämlich wirklich mit seinem Stellwerk im Bahnvorsteher-Büro und Verkaufsschalter, mit den alten Haltesignalen und den Geranienkästen ein erhaltenswertes Kulturdenkmal.

Durchgangsverbot Blumen 2 Halt Der Zug

31. 5. 2011

Mal wieder Frankfurter Kunstverein. Dort kuratiert seit einiger Zeit Holger Kube Ventura, den wir in Kassel im Umfeld von Kunsthochschule und Kunstverein kennen lernten.

Zu besichtigen ist ein großes Projekt, das nur zu etwa einem Drittel in der Main-Metropole umgesetzt ist. Die beiden anderen Drittel teilen sich der Kunstverein Hannover und das Kunsthaus Baselland. „Über die Metapher des Wachstums“ heißt das ehrgeizige Unternehmen, das von der Bundeskulturstiftung gefördert wird und zu dem der Katalog in Deutsch-Englisch erschienen ist. Wenn dahinter kein großer Anspruch steht.

Ausbeutung und Gewinnmaximierung, Kapitalismus und Wachstum ohne Grenzen – der Katalog ist gespickt mit theorielastigen Aufsätzen, die uns zur moralischen und praktischen Umkehr aufrufen.

Das ist nichts für Alte wie für mich, die vor rund 40 Jahren die „Grenzen des Wachstums“ gelesen haben und die sich erinnern, dass HA Schult zur documenta 5 eine biokinetische Landschaft (Müllberg) von einem schwarzen Soldaten bewachen ließ. Richtig ist natürlich, dass wir alle damals nicht aus unseren Erkenntnissen die notwendigen und radikalen Konsequenzen gezogen haben. Denn Freunde des Wachstums sind wir immer noch. Genau so richtig ist aber auch, dass vieles von dem, was jetzt im Katalog beschrieben und beklagt wird, meiner Generation bekannt ist.

Doch in der Ausstellung selbst geht es weder um Bewusstsein noch um Wissen, sondern um die Frage, was die Künstler dazu beitragen. Das Ergebnis der Recherche ist eher enttäuschend. Man sieht Bilder, Objekte und Installationen, die das Wachstumsthema einkreisen und illustrieren. Ja, kann man nur sagen, Recht haben sie, so ist das. Aber im Vergleich zu künstlerischen Arbeiten, die in den 70er-Jahren die Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft in Frage stellten, hat man hier Mühe, einen Ansatz zu finden, der über das Bekannte hinausgeht, der seinen Finger in eine Wunde legt, die wir noch nicht wahrgenommen hatten.

Nein, es gibt überhaupt nichts einzuwenden gegen die Installation „Verschwendung ist die größte Energiequelle“ von Mindpirates. Das ist gut eingerichtet und ist auch alles erschreckend wahr. Doch die Botschaft, die wir hören, konnten wir längst in „brand eins“ oder andernorts lesen.

Am brisantesten ist da noch die Video-Doppelprojektion „All That Is Solid Melts into Air“ von Mark Boulos, in der das Treiben an der Chicagoer Ölbörse und der Überlebenskampf der Menschen im Nigerdelta, das von der Ölwirtschaft geprägt ist. Diese Arbeit hatte die Besucher schon in der jüngsten Berlin Biennale in Atem gehalten.

Ja, und dann ist da noch die Arbeit von Bankleer („Headfonds“), die uns vorführt, wie ein Manager seinen Arbeitsplatz zurücklässt, um mit dem Kopf durch die Decke zu stoßen. Wollte er sichg erhängen oder ist er nach oben katapultiert worden? Gleichviel. Doch die Installation kann ich nicht betrachten, ohne zugleich an Maurizio Cattelan und seine Figur zu denken, die durch den Fußboden hindurch in den Raum eindringt.

23. 3. 2011

Carolyn Chrstov-Bakargiev benutzt eigenwillige Wege, um sich ihrer Ausstellung anzunähern. Jetzt lädt sie für kommenden Montag Vormittag vor das Kasseler Rathaus ein, um mit dem Künstler Horst Hoheisel, den Aschrottbrunnen zu reinigen, der nach der Zerstörung durch die Nazis 1987 von Hoheisel als verlorene (in den Boden versenkte Form) als Mahnmal wieder errichtet worden war. Hoheisel hatte den 12 Meter hohen Obelisken in Beton rekonstruiert und kopfüber in die Tiefe senken lassen. Alle Stunde sammelt sich in dem flachen Brunnenbecken das Wasser, um dann in die Tiefe zu stürzen. Sigmund Aschrott hatte 1908 den Brunnen zum Rathausneubau gestiftet. Weil er Jude war, wurde der Brunnen 1939 von den Nazis zerstört.

Inwieweit die Aktion am Montag mit der dOCUMENTA (13) zu tun hat, ist offen. Klar jedoch ist, dass CCB alles interessiert und fasziniert, was in Deutschland mit der Zerstörung im Dritten Reich zusammenhängt.

Seit der Fertigstellung reinigt Hoheisel zwischen Frühjahr und Herbst den Brunnen einmal im Monat. Der Kontakt zwischen CCB und Hoheisel kam über eine Kunsthistorikerin in Argentinien zustande, die berets mehrfach über den Kasseler Künstler Hoheisel geschrieben hat.

12. 12. 2010

Was wären ich und diese Rubrik ohne die FAZ? Immer wieder bringt sie in ihrer Kunstkritik einen unglaublichen Spitzentanz der Sprache hervor. Kostproben davon muss ich genussvoll weitergeben, obwohl ich dieser Zeitung und ihrem Feuilleton gram sein müsste, weil sie es fertig gebracht hat, seit 2008 keine einzige Ausstellung in der Kasseler Kunsthalle Fridericianum zu besprechen. Ignoranz oder Arroganz oder Boykott-Politik? Seit Eduard Beaucamp weg ist, gibt es dort in der Redaktion keinen mehr, der zuverlässig und kritisch verfolgt, was in der Kasseler Kunstlandschaft passiert.

Aber nun zum Anlass, den wieder einmal Dieter Bartetzko geliefert hat. In der Ausgabe vom 8. 12. hat er die Leipziger Ausstrellung von Michael Triegel besprochen. Das Motto dazu liefert er im sechsten Absatz: „Dazu kommt ein undurchschaubarer Attributkult“. Woher soviel Selbsterkenntnis? Auf jeden Fall ist die Kritik ein sinnliches Abenteuer.

Das beginnt mit dem zweiten Satz: „So üppige, frappant naturgetreue Faltenwürfe, so zum Tasten reizende changierende Seide und samtige Haut, so viel entrückte, traurige Gesten und Gesichter: das ist doch mal etwas anderes als die ausgemergelten Zeichen- und Ding-Rätsel der zeitgenössischen Kunst.“

Ironie oder endlich der Mut zur Abrechnung mit dem Zeitgenössischen? Und an wen, bitte schön, denkt er hier?

Aber lassen wir uns wieder vom Strudel des Attributkult mitreißen: „Schon das erste Bild kommt geheimnisvoll, scheint es doch eine lebensgroße, weiß verhüllte Heiligengestalt, ehe man erkennt, dass unter dem Gebausche und Geriesel absolute Leere ist, ein menschengestaltiges Nichts. Doch was macht das schon: Zwanzig Schritte weiter wartet, wovon momentan alle reden: der Anlass allen Andrangs – Triegels Papst-Porträt.“ Das menschengestaltige Nichts hätte Heidegger nicht besser beschreiben können.

Und dann folgt ein Bad in der Kunstgeschichte. Bartetzko lässt hier kaum einen Namen aus, der als Vorbild und Anreger in Frage kommen könnte: „Die Frage lässt sich so schwer beantworten wie die, ob der in Leipzig ausgebildete Maler sich in die pathetische tradition eines Werner Tübke oder die selbstverliebte Neue Sachlichkeit des Christian Schad stellen oder ob er die schale Postmoderne des Carlo Maria Mariani wiederbeleben will. Nur eines ist spätestens nach zehn der siebzig ausgestellten, zwischen 1994 und 2010 entstandenen Gemälde deutlich: Mehr als von Mategna, Raffael, Dürer, De La Tour, Velázquez, Caravaggio oder Otto Dix ist Michael Triegel besessen von sich selbst.“

Aber der Kritiker ist selbst ein Meister der Bilder, wie dieses letzte Textbeispiel zeigen mag: „Sein asketischer Täufer ist zugleich der selbstverliebte Narziss, lässt sich aber ebenso schwer unter `Retro‘ abhaken wie seine in Selbstgrauen versunkene Medea, deren eine Hand den Sohn so ehrfürchtig stützt wie Maria das Jesuskind, während die andere ein Messer hält, das aus dem aktuellen Solingen-Katalog für Haute-Cuisine-Köche stammt.“

Das ist doch was zum Nachschmecken.

14. 11. 2010

Im vorigen Jahr war befürchtet worden, der Hessische Kulturpreis leide unter der dem vorausgegangenen Streit um Navid Kermani. Am Ende des mühsamen Prozesses aber waren diese Befürchtungen gegenstandslos. Die Reden von Kermani, Ministerpräsident Koch und auch von Salomon Korn trugen dazu bei, dass der plötzlich so viel diskutierte Preis ernst genommen wurde, weil sich in dem Streit um ihn das ganze Dilemma unseres Umgangs mit der Spannung zwischen den Religionen offenbarte und weil Lösungsansätze sichtbar wurden.

Beste Voraussetzungen also dafür, dass die diesjährige Preisverleihung, die gestern erfolgte, davon profitieren konnte, zumal die alleinige Preisträgerin, Rebecca Horn, über jeden Streit erhaben war. Doch das Gegenteil war der Fall. Trotz der hochrangigen Wahl verlor der Kulturpreis an Glanz und Überzeugungskraft.

Das fing damit an, dass der Einladung weit weniger Ehrengäste Folge leisteten, als zu erhoffen war. Überdies war das Kuratorium nur äußerst schwach vertreten. Doch am schlimmsten war, dass es keine angemessene Laudatio auf die Künstlerin gab. Laut Programm wollte zwar Ministerpräsident Volker Bouffier eine Laudatio halten, doch zum Inhaltlichen kam er gar nicht. Sein Versuch, wie sein Vorgänger Roland Koch eine weitgehend frei gehaltene Rede abzuliefern, misslang reichlich. Er lieferte eine provinzielle Ansprache ab, die sich darin erschöpfte, zu betonen, wie bedeutend, international anerkannt und gefragt die Künstlerin sei, dass sie Grenzüberschreitungen gewagt habe usw. usw. Einmal versuchte er sich in der Beschreibung der Arbeit, die im Eingangs-Oktogon des Museums installiert ist. Doch da blieb er in der Hälfte stecken.

Hat er oder will er keine Redenschreiber, die ihm angemessen zuliefern? In diesem Fall aber wäre es günstiger gewesen, er hätte ein Grußwort gesprochen und die Würdigung einer/m Expertin/en überlassen.

Einziger Trost war, dass die Preisverleihung im Museum Wiesbaden stattfand, in dem einige wunderbare Arbeiten von Rebecca Horn installiert sind. Ich hatte im Kuratorium darauf hingewiesen, wie präsent Rebecca Horn in Wiesbaden ist. Im übrigen hätte es dem Ministerpräsidenten gut angestanden, wenn er darauf hingewiesen hätte, dass die Preisentscheidung vor dem Beginn seiner Amtszeit gefallen war.

Die im Museum Wiesbaden zu besichtigenden Arbeiten überzeugen übrigens weit mehr als der Film „Fata Morgana“, den Rebecca Horn vorführen ließ, und als die „Gedichte“ genannten Tagebuchnotizen, die die Künstlerin vortrug. Grandios allerdings war die Musik,
die Hayden Chisholm (der Sohn von Rebecca Horn) und seine Formation vortrugen.

„Das Geistige in der Kunst“ heißt die große und in Teilen großartige Ausstellung, mit der sich Volker Rattemeyer als Museumsdirektor verabschiedet. In der Feierstunde jedoch war kaum Platz für das Geistige in der Kunst.

29. 9. 2010

Manchmal ist die Wirklichkeit besser als das, was in einer Ausstellung gezeigt wird. Im Frankfurter Kunstverein werden unter dem Titel Tales of Resistance and Change Werke von 13 argentinischen Künstlern präsentiert. Keine überwältigende Ausstellung, aber einige bemerkenswerte künstlerische Kommentierungen des Alltags.

Gian Paolo Minelli zeigt Großstadtporträts, in denen wir mit den Rück- und Schattenseiten der Städte (am Rande des Verfalls) konfrontiert werden. Es sind herausragende und ernüchternde Aufnahmen.

Minelli Foto Wirklichkeit 1 Wirklichkeit 2

Und doch verblassen die Großfotos, wenn man nach rechts durch eines der Fenster hinausschaut und die Brutalität der Frankfurter Wirklichkeit erblickt. Da schaut man nämlich mitten in die Abriss-Baustelle des technischen Rathauses. Im Schatten des Domes wird ein Stück in der Tat wenig schöner Nachkriegsarchitektur beseitigt, um der fragwürdigen Vision einer historischen Heile-Welt-Fassade Platz zu machen.

Vor den Augen der Kunstvereinsbesucher öffnet sich eine Wunde, die im Streit um die angemessene Architektur entstanden ist. Da kommen Minellis Ansichten nicht mit.

29. 9. 2010

Die nächste Berlin Biennale (2012) wird wieder in die Hand eines Künstlers gelegt: Berufen wurde der polnische Künstler Artur Zmijeweski, der sich bei der documenta 12 im Kulturzentrum Schlachthof mit einer eindrucksvollen und erschütternden Video-Arbeit vorgestellt hatte. Der 1966 in Warschau geborene Künstler hat sich mit Fotografie, Film, Video und Klanginstallationen befasst. Für seine Arbeit „Gesangsstunde“ hatte er mit gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen unter anderem eine Bachkantate einstudiert. Entstanden ist ein ergreifendes Hördokument, das sich zwischen Vollendung und Chaos bewegt. In anderen Arbeiten hat er sich intensiv mit dem Holocaust auseinandergesetzt.

Zmijewski 1 Zmijeski 2 Zmijewski 3 Zmijewski 4

Seine Video-Installation „Them“, die im Kulturzentrum Schlachthof zu sehen war, knüpfte an die künstlerisch-subversiven Techniken der 70er-Jahre in Polen an. Das Künstleratelier wurde zu einem Soziallabor verwandelt, in dem ein Wechselspiel zwischen öffentlichem und privatem Raum stattfand. Im Kern ging es um die Frage, ob ein „soziales“ Atelier möglich sei.Zmijeweski lud unterschiedliche Gruppen (Katholiken, Nationalisten, Sozialisten, Juden) ein, ließ sie ihre Weltanschauungssymbole in einem Bild darstellen und dann aufeinander reagieren. Das heißt: Jeder konnte die Bildbotschaft der anderen übermalen. Aus vorsichtigem Kommentieren wurde Gewalt. Am Ende verbrannte das Bild.

2. 9. 2010

Zweiter Teil der Feier des Kasseler Kunstvereins zu seinem 175jährigen Bestehen. Dieses Mal gibt es eine Ausstellung zu bestaunen, die ebenso außergewöhnlich wie unterhaltsam ist. Man kann sie in Teilen aber auch als diffamierend empfinden, wenn man einige Werke, die ihre Ruhe brauchen, um ihren Charakter zu entfalten, in einer Kraut & Rüben-Umgebung sieht.

Wiederholt hat der Kasseler Kunstverein, Werke aus Privatbesitz (seiner Mitglieder) präsentiert. Doch dieses Mal ging es weder um ein Thema noch um den Nachweis, dass auch in Kassel zeitgenössische Kunst gesammelt wird, sondern um Vielfalt. Die Vorstandsmitglieder schwärmten aus und machten Hausbesuche, so auch der Titel der Schau, um aus den Sammlungen seiner Mitglieder ein möglichst buntes Bild der Kunstleidenschaft zusammen zu stellen. Weder wurden zeitliche Grenzen gesetzt (das älteste Bild ist über 200 Jahre alt) noch Unterschiede zwischen Original und Drucken gemacht.

Ein imaginärer Spaziergang durch die Bilderwelten der Kasseler Wohnstuben ist zu machen – in Petersburger Hängung sieht man Schinken neben zarten Zeichnungen, prominente und längst vergessene Namen, Geklautes (aus documenta-Abbrucharbeiten) neben teuer Gekauftem. Man fühlt sich an die Jahresschau alten Stils erinnert (die man nie richtig gemocht hat und trotzdem schmerzlich vermisst) und ein Kaleidoskop der Unvereinbarkeiten.

Die Schau passt zum Stil des derzeitigen Kunstvereinsvorstandes, der witzige Konstellationen bevorzugt, der mit der Kunst spielt. Dabei hätte man den Künstlern unter den Mitgliedern erparen sollen, ihre eigenen Werke einzureichen.

Eröffnung Familienbild Gespräch Maarten Thiel
Siegfried Sanders Wahl Petersburger Hängung Malerei und..
Viele Künstler allerdings fühlten sich genauso geehrt, in der Ausstellung dabei zu sein, wie die Mitglieder, die sich als Sammler präsentieren können. Man kann Flagge und einen Standpunkt zeigen. Aber die Mitglieder, die meist nur Hobby-Sammler sind, hier aber anscheinend den Professionellen gleichgestellt werden, werden vom Vorstand auch vorgeführt. Denn noch größer als die Ehre als Sammler dabei zu sein, ist der Spaß, die kunterbunten Werke nach Dada-Manier zu zeigen – so, wie man es in einer normalen Ausstellung des Kunstvereins nicht macht.

Aber das Prinzip hat sich bewährt: So viele Eröffnungsbesucher hatte der Kunstverein lange nicht. Vor allem sah man endlich, wer alles Mitglied ist.

24. 8. 2010

Was ich im Februar zur Temporären Kunsthalle in Berlin schrieb, kann ich nur bekräftigen. Bis zu ihrer letzten Ausstellung, die leider am 31. 8. endet, bleibt die Kunsthalle der im Moment kreativste Ausstellungsort. Den Schlusspunkt durfte John Bock mit seiner Ausstellung Fischgrätenmelkstand setzen, der seinerseits fünf Dutzend Künstler einlud, seine Installation mit ihren Arbeiten zu besetzen.

Carten Nicolai (Außenhülle) Nicolai - Bock Rosefeldt Kippenberger

Bock, in Kassel bestens von der Documenta11 bekannt, ließ in die Kunsthalle ein Gerüst stellen, das er viele kleine Räume unterteilte. Erstmals wurde die Halle in ihrer ganzen Höhe ausfüllt und genutzt. Als Besucher begibt man sich auf eine abenteuerliche Expedition, die an einer Stelle (über eine Leiter) nicht nur unter das Dach führt, sondern auch einen Ausblick über das Flachdach auf den Schlossplatz und Umgebung erlaubt.

Die Installation von Bock ist spannender und lebendiger als die offene Hauskonstruktion, die Petrit Halilaj für die Berlin Biennale in den Kunstwerken schuf. Einerseits ist das Bocksche Viel-Familienhaus bunter und lebendiger, andererseits geheimnisvoller, weil die Räume untereinander durch Vorhänge, Wände und andere Materialien abgetrennt sind. Außerdem sind die Räume nicht Selbstzweck, sondern dienen anderen Künstlern als Plattformen für ihre Werke.

Nicht alles funktioniert so, wie es Bock gedacht hat. Der Durchbruch in einer Seitenwand, um den Blick nach außen von einer Kanzel aus zu ermöglichen, ist gut gedacht. Allerdings wirkt die Kanzel origineller, wenn man sie von außen betrachtet. Zu den besten Räumen gehört der, in dem Kippenbergers verbrannte Pizzen zu sehen sind.

Schlingensiefs Afrika-Projekt

Keine großartige Inszenierung, eher schlichte Dokumentation – Christoph Schlingensiefs Videos und Modelle zu seinem Afrika-Projekt. Nun nach Schlingensiefs Tod ein Gedenkort.

15. 8. 2010

Schon wieder eine Todesnachricht, die mir nahe geht. Ansgar Nierhoff, der nur gut ein halbes Jahr älter war, als ich bin, ist gestorben. Krank, schwach und hilflos kann ich mir ihn nicht vorstellen. Wie mag er gestorben sein?

Auf mich wirkte er groß und massiv, ein Stahlbildhauer der alten Schule, auch wenn er sich ganz der Abstraktion bediente. Als Künstler war und blieb er ein Schmied, der zupacken und mit den massiven Formen umgehen konnte, der konsequent und unerbittlich bis zur Kompromisslosigkeit sein konnte. Wenn seinen Arbeit Gewalt angetan werden sollte, konnte er brüllen, dass die anderen erzitterten. So habe ich ihn kennen gelernt – in den Jahren 1993 bis 1996.

1977 hatte Nierhoff an der documenta teilgenommen, und 1984 hatte er im Kasseler Kunstverein ausgestellt. Jetzt war er seit 1988 Professor in Mainz (bis 2008) und konnte als etablierter Künstler gelten, der mit seinen Stahlskulpturen Plätze und Räume kommentierte und akzentuierte.

Im nordhessischen Frankenberg erinnerte man sich an die Tatsache, dass Nierhoff als Heranwachsender einige Jahre in der Stadt gelebt und dort auch sein Abitur gemacht hatte. Man warb um ihn und konnte ihn zu einer Ausstellung überreden. Der Bildhauer war so erfreut über das Interesse an seiner Arbeit, dass er für die Marienkapelle, die zur Liebfrauenkirche (hoch über der Stadt) gehört, eine neue Arbeit entwickelte. Seit die Bilderstürmer 1605 die Marienkapelle um ihren Figurenschmuck gebracht hatten, hatte sie ihre Funktion als Wallfahrtstätte verloren und war fast vergessen worden. Nierhoff entdeckte sie wieder und schuf eine vierteilige Arbeit „Ausgleich nach dem Bildersturm“ – die Bezug auf die Plünderung nahm. Die Arbeit bestand aus einer zweigeteilten runden Scheibe als Basis (Dehnung), einer Kugel (Konzentration, Vollendung, Bewegung) und einem Rundstab (Streckung mit Blick auf die Raumhöhe). Die innere Verknüpfung der vier Teile bestand darin, dass alle über das selbe Volumen Stahl verfügten. Die Arbeit bestand aus geometrischen Grundformen und verwiesen in vielfältiger Weise auf die gotische Architektur. Wenn man es genau nimmt, dann stellten sie sich in den Dienst der Kapelle. Eine wunderbare Konstellation.

Außerdem hatte Nierhoff in der Liebfrauenkirche Eisenzeichnungen installiert, die sich so harmonisch einpassten, dass schon bald der Kirchenvorstand dafür votierte, sie auf Dauer in der Kirche zu behalten.

Ein mutiges Bekenntnis zur Moderne, das allerdings schnell unterging, weil in der Folge schwere Vermittlungsfehler begangen wurden: Die Kunstfreunde, die zum Teil keine Kirchenmitglieder waren, hatten nämlich bald damit begonnen, dafür zu werben, auch den „Ausgleich nach dem Bildersturm“ in Frankenberg zu behalten. Ihnen gelang es sogar, mit Hilfe der Hessischen Kulturstiftung die Ankaufsmittel bereitzustellen. Doch je größer der Druck der Kunstfreunde und -experten wurde, desto mehr verhärtete sich die Mehrheit der Kirchensorstandsmitglieder. Sie sahen darüber hinweg, dass sich zuvor kaum jemand (auch von ihnen nicht) um die Marienkapelle gekümmert hatte. Nun wehrten sie sich dagegen, die Kapelle in einen Kunstraum umzuwandeln. Und vollends verschlossen sie sich, als ihnen vorgeworfen wurde, sie seien gegen die Kunst der Moderne – hatten sie doch für die Eisenzeichnungen votiert.

Aus der spontanen Verehrung für Nierhoff wurde im Lauf von zweieinhalb Jahren ein lautstarker Streit, in dem Nierhoff die Frankenberger gelegentlich auch ungerecht beschimpfte.

Die Einladung zu einer Klärung am Runden Tisch kam zu spät. Jetzt war Vermittlung nicht mehr möglich. Der Bruch war vollzogen. Nierhoff ließ seine Arbeit aus der Marienkapelle abholen und präsentierte sie drei Jahre später mit Erinnerung an Frankenberg in einer Bonner Ausstellung.

Aus diesem Anlass schrieb ich 1999 den Text „Das Unausweichliche in der Kunst“ für den Bonner Katalog (http://dirkschwarze.net/2007/02/01/das-unausweichliche-der-kunst/)

16. 7. 2010

Ein paar Worte bin ich Prof. Werner Schmalenbach schuldig, der am 6. 7. im Alter von 89 Jahren starb. Wir waren seit meiner Düsseldorfer Zeit (1979 – 1981) auf besondere Weise verbunden. Das Wort Hassliebe ist sicherlich zu stark. Aber Wertschätzung und kritische Ablehnung waren zugleich im Spiel.

Das erste Mal, dass ich auf Schmalenbachs Namen aufmerksam wurde, war in den 60er-Jahren. Da las ich im Spiegel einen kritischen Bericht über ihn. Er habe, so war da zu lesen, für wahnsinnig viel Geld (es ging, glaube ich, in die Millionen) ein Gemälde für die im Aufbau befindliche Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gekauft, das er einige Zeit vorher zu einem Bruchteil des Preises hätte haben können.

Je mehr ich mich in die Kunstthematik einarbeitete, desto häufiger stieß ich auf ähnliche Berichte und Vorwürfe. Die Tendenz wurde klar: Schmalenbach lehnte prinzipiell Ankäufe von Werken aus Ateliers ab, er wollte keine Bilder, deren Farben noch nicht durchgetrocknet waren. Überhaupt wollte er keine aktuellen und modischen Tendenzen in seiner Sammlung haben. Vielmehr hielt er nach Meisterwerken Ausschau, die sich im Kunstbetrieb bewährt und behauptet hatten, die typisch und trotzdem einzigartig im Werk des Künstlers waren. So kaufte er statt zehn guter Bilder ein sehr gutes. Er hatte dafür freie Hand und vergleichsweise genug Geld. Seine Sammllung wuchs deshalb sehr langsam.

Als ein Freund neuer und lebendiger Kunst war mir dieses Konzept zuwider. Und in meiner Zeit bei der Rheinischen Post äußerte ich 1979/80 in einem Artikel meinen Unmut und meine Zweifel öffentlich, nachdem Schmalenbach eine Verteidigungsrede seiner Sammlungspolitik vorgelegt hatte. Schmalenbach fand diesen Streit offenbar erfrischend. Er lud mich zum direkten Gespräch und blieb mit mir in Kontakt.

Als dann die Kunstsammlung, von der im damaligen Museumsprovirorium nur Bruchteile zu sehen waren, erstmals in der Breite in der Villa Hügel in Essen gezeigt wurde, musste ich – bei allem Fortbestand der Kritik – einräumen, dass da eine ganz außergewöhnliche Sammlung von Meisterwerken seit der Frühzeit von Picasso entstanden war. Kaum zu glauben, dass dies alles in den 60er- und 70er-Jahren zusammengetragen werden konnte.

Diese Wertschätzung verstärkte sich bei der Eröffnung der Kunstsammlung am Grabbeplatz in Düsseldorf. Gleichwohl blieben die Einwände: Wo blieb Joseph Beuys, wo blieben die anderen Zeitgenossen und wo blieb die Skulptur? Schmalenbach hatte sich, seitdem er vor der 4. documenta aus dem documenta-Rat ausgeschieden war, um nicht das Konzept der aktuellen Kunst (Pop, Op etc.) mittragen zu müssen, in eine Trotzhaltung hineingesteigert. Zwar schrieb er Texte und hielt Eröffnungsreden für zeitgenössische Künstler (auch aus der dritten Reihe), doch sein Museum hielt er für den Bazillus aktuelle Kunst geschlossen.

Als sein Nachfolger Armin Zweite das Ruder herumdrückte und jüngere Werke ankaufte und für Beuys einen großen Raum einrichtete, gestand mir Schmalenbach, dass er die Kunstsammlung, die seine Schöpfung war, nicht mehr betrete.

1981 erhielt ich das Angebot in Kassel bei der HNA die Leitung der Kulturredaktion und damit dort die Kunstkritik und documenta-Berichterstattung zu übernehmen. Als ich Schmalenbach, der in Göttingen geboren wurde, davon erzählte, sagte er: „Herr Schwarze, man kommt aus Kassel, aber man geht nicht nach Kassel.“

Nun, ich bin trotzdem gegangen.

Das letzte Mal begegneten wir uns 1995. Der 40. Geburtstag der documenta und die bevorstehende documenta X waren der Anlass für eine Diskussion, die ich im Auftrag unseres Verlegers und in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein organisierte. Diskussionsteilnehmer waren Prof. Werner Schmalenbach, Prof. Kasper König (damals Direktor der Städelschule in Frankfurt) und Prof. Tilman Osterwold (Direktor der Kunsthalle Fridericianum). Ich hatte das Podium zusammengestellt und die Gesprächsleitung übernommen.

Die Vorbereitungen waren nicht einfach. König war sofort bereit, zu kommen. Er hätte mir zuliebe auch kein Honorar verlangt. Doch vorweg stellte er eines klar: Ich komme auch dann, wenn es kein Geld gibt. Wenn aber Schmalenbach 1000 Mark erhält, bekomme ich auch 1000 Mark. König erhielt 1000 Mark.

Schmalenbach aber brauchte einen roten Teppich. Als er endlich das Podium und das Honorar akzeptiert hatte, fragte er am Telefon, wie er denn nach Kassel komme. Nach Rücksprache mit Verleger Rainer Dierichs bot ich ihm an, ihn am Tag der Diskussion in Düsseldorf-Meerbusch mit dem Auto abzuholen und ihn am nächsten Tag vom Chauffeur des Verlegers zurückbringen zu lassen. Das schien mir das Mindestes zu sein – als Angebot für einen Mann, der offenbar selbst nicht Auto fährt.

König, Osterwold, Schwarze, Schmalenbach (v. l.) - Foto: Rosenthal

Also holte ich Schmalenbach mit meinem Auto in seiner Wohnung ab. Der Vorteil war, dass wir während der Fahrt zweieinhalb Stunden Zeit hatten, uns über die documenta, die Kunstsammlung NRW und über die Kunst zu sprechen. Ein spannender Nachmittag.

Mittendrin erzählte er, dass der Chef der Fordwerke Köln, der Vorsitzender der Freunde der Kunstsammlung war, sich eines Tages bei Schmalenbach darüber beschwert habe, dass er keinen Ford fahre. Darauf habe er, Schmalenbach, geantwortet: „Wenn Sie daran etwas ändern wollen, fahre ich auch Ford.“ Wenige Tage später habe er einen Ford vor seiner Tür stehen gehabt.

Und ich meinte, der ehemalige Museumschef fahre nicht selbst Auto…

15. 7. 2010

Eigentlich mag ich es nicht, wenn der Katalog zur Ausstellung erst am Ende der Schau oder gar danach erscheint. Denn dann werden kaum die normalen oder zufälligen Besucher erreicht, sondern eher die professionellen Kunstinteressenten. Oft ist dann der Gewinn durch die Ausstellungs-Dokumentation gar nicht so groß.

Aber es gibt Ausnahmen. Eine der gelungsten Ausnahmen halte ich seit gestern in den Händen. Es handelt sich um den Band zu der Ausstellung „(white Reformation Co-op) Mens sana in corpore sano“ von Thomas Zipp, die in der Kunsthalle Fridericianum zu sehen war. Der mit Texten von Rein Wolfs und Veit Loers ausgestattete Band erscheint im Verlag der Buchhandlung Walther König (190 S., 28 Euro in der Kunsthalle, 34 Euro im Buchhandel).
Katalog Kassel

Der Bildband ist ein Feuerwerk der Ästhetik. Er entspricht der Klarheit und Schönheit der schwarz-weißen Korridore, die Zipp in seiner Ausstellung im Kasseler Fridericianum inszeniert hatte. Besser noch als in der Ausstellung selbst kann man die einzelnen Bilder, Objekte und Räume studieren, die in ihrer Gesamtheit in hervorragenden Aufnahmen reproduziert sind. Wer die Ausstellung gesehen hat, kann sie dank der Dokumentation noch einmal Station für Station nacherleben. Andererseits werden diejenigen, die die Ausstellung in der Kasseler Kunsthalle nicht besuchen konnten, von der Faszination erfasst, die die Besucher erlebten.

Beeindruckend ist die dominierende Schwarz-Weiß-Ästhetik, die mit verhaltener Farbigkeit kombiniert ist. Programmatisch ist auf dem Schutzumschlag die Gummizelle als White cube zu sehen. Die Strenge und Schönheit in der Gestaltung überraschen umso mehr, als sich Thomas Zipp beim öffentlichen Gespräch über seine Arbeit und die Ausstellung so (nach)lässig gab und manchmal s tat, als wäre alles beliebig.

Der Bildband verdient es, in den Wettbewerb um die schönsten Kunstbücher aufgenommen zu werden.

12. 6. 2010

Sigmar Polke ist tot. Einer der für wichtigsten und zugleich schwierigsten Maler der letzten 40 Jahre. Klaus Honnef sah in ihm den Joseph Beuys der 80er- und 90er-Jahre. Diese prägende Vorbildfigur war er sicherlich nicht. Aber kein Zweifel: Neben Gerhard Richter und Anselm Kiefer war die Schlüsselfigur deutscher und internationaler Malerei.

Polke 1 Polke 2

Die Todesnachricht geht mir deshalb so nah, weil ich das Gefühl habe, ihn erst kürzlich getroffen zu haben. Das stimmt natürlich nicht. Doch in der Eröffnungsausstellung „Starter“ in dem Istanbuler Kunstraum „Arter“ ist Polke gleich mit mehreren Arbeit präsent und für mich so lebendig und frisch, dass der Gedanke an seinen Tod mir nicht in den Sinn will.

Sigmar Polke ist sicherlich der Künstler, der am nachhaltigsten die deutsche Spielart der Pop-art entwickelt hat. Zusammen mit Gerhard Richter und Konrad Lueg hatte er 1963 den „Kapitalistischen Realismus“ begründet, der sowohl den sozialistischen Realismus parodierte als auch die Malerei des Informel, die sich mittlerweile abgenutzt hatte. Die ironische und humorvolle Grundhaltung blieb weiter bestimmend für Polkes Werk. Er liebte es, sich als bloßes Werkzeug eines höheren Kunstwesens darzustellen („Höhere Wesen befahlen…“) und dementsprechend war ein Kennzeichen seiner Malerei, dass er sich immer wieder mit der Malerei beschäftigte. Er führte sie nah an die Wirklichkeit ran, indem er bedruckte Stoffe übermalte oder Siebdruckmotive in seine Bilder einbezog. Seine Bilder spiegelten das Übereinanderschieben der verschiedenen Bewusstseinsebenen.

Gleichzeitig erforschte er ähnlich intensiv wie Richter die Möglichkeiten der Malerei. So stellte er im deutschen Pavillon in der Vendig Biennale Bilder aus, deren Farben sich unter dem Eindruck wechselnder Temperaturen änderten.

Sigmar Polke fotografierte gern und intensiv. Möglicherweise ist auf dem Feld ein entscheidendes Werk noch nicht gehoben.

Sigmar Polke war als Künstler selbstbewusst und merkwürdig scheu. Obwohl Rudi Fuchs zweimal Anläufe unternommen hatte, Polke mir als Gesprächspartner für meine Serie „Künstler der documenta 7“ zu vermitteln, entzog sich Polke dem Interview.

6. 6. 2010

Nehru Universität in Neu Delhi, CCA Graduate Studies Lecture Series, CCA, San Francisco, Cooper Union, New York und Timur Shah Mausoleum, Kabul, Afghanistan. Das sind vier Stationen im internationalen Vortragsprogramm, das dOCUMENTA (13)-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev seit Februar absolviert (soweit es die Pressestelle vermittelt). Besonders herausfordernd muss die jüngste Station (2. Juni: Kabul) gewesen sein. Zum einen deshalb, weil man natürlich erfahren will, ob und wie in einem vom Krieg und kulturellen Kampf erschütterten Land Menschen mit einem Vortrag über die documenta umgehen, ob es da wirklich eine austauschende Diskussion über Kunst und Gesellschaft gibt. Und zum anderen, weil man natürlich ebenso neugierig darauf ist, ob es in dem Land aktuell Künstler gibt, die sich und ihre Situation reflektieren und die ihre Ideen in Werke umsetzen, die in der dOCUMENTA (13) zu präsentieren wären.

Der Vortrag der documenta-Leiterin (“Notes on dOCUMENTA (13), 2012“) durch Beiträge des Anthropologen Michael Taussig und der Künstler Francis Alÿs und Mario Garcia Torres. Muss man sich diese Namen für die dOCUMENTA (13)-künstlerliste merken, auf der bisher nur mit Bestimmtheit Giuseppe Penone steht?

24. 4. 2010

Erfreuliche Entwicklung bei der Nutzung dieser Seiten (dirkschwarze.net). Im Jahr 2009 registrierte die Statistik von 1&1 rund 204 000 Seitenzugriffe.

In diesem Jahr nun ist bereits am 23. 4. die Zahl von 205 000 Seitenzugriffen (seit 1. Januar) erreicht worden.

Auch die Zahl der Besucher nahm kräftig zu: 2009 waren es 81 500 Besucher im ganzen Jahr, nun waren es vom 1. Januar bis 23. April 63 100.

24. 4. 2010

Wie gefährlich ist eigentlich Malerei?

Es ist das Verdienst der FAZ, diese brennende Frage immer wieder in Erinnerung zu bringen. Hatte vor einiger Zeit Patrick Bahners in den abstrakten Bildern von Gerhard Richter nach radioaktiven Spuren Ausschau gehalten (Fundstücke (1) – Richters Bilder nach Gorleben?), entdeckt nun Rose-Maria Gropp in ihrer Besprechung der Frankfurter Kirchner-Ausstellung die infektiöse Kraft der Farben Pink, Gelb und Grün in den Großstadtbildern von 1913-15. Leider geht die Kritikerin nicht näher auf die Frage ein, ob jetzt, fast 100 Jahre später, für die Betrachter immer noch Ansteckungsgefahr bestehe.

Bei dem FAZ internen Wettbewerb um die sprachmächtigste und originellste Kunstkritik hat Rose-Maria Gropp zwar noch nicht Patrick Bahners eingeholt, doch sie hat sich eine gute Ausgangsposition erobert. Lassen Sie uns ein paar Formulierungen nachschmecken:

„Das Epizentrum jeder dieser Momentaufnahmen bilden die Frauen, an deren Leibern sich wie Späne an einem Magnet die Pinselstriche bündeln.“ Daraus ergibt sich natürlich die Frage, ob die Leiber der Frauen sich schon auf der Leinwand materialisiert haben, bevor Kirchner mit seinen Pinselstrichen darüber ging? Auch dürfte der Hinweis auf die Metallspäne eine neue Diskussion über Kirchners Malstil eröffnen.

Doch weiter im Text, damit die Farben näher begutachtet werden können:

„Die gelängten Kokotten… sträuben ihr Gefieder vor ihren Freiern, eingefangen in der Zeichenwelt der Großstadt, in infektiösem Pink und Gelb und Grün. Doch selbst in dieser ganz hohen Kunst tritt einem auch der Sog des Futurismus entgegen, geboren aus dem Geist des Fin de Siècle. Als ob sich seine fiebrige Beschleunigung amalgamierte mit der expressionistischen Praxis, Bewegungen in ganz kurzer Zeit zeichnerisch festzuhalten.“

Das große Geheimnis der ungewöhnlichen malerischen Verbindungen und Kollisionen scheint eben in Kirchners Drogensucht zu liegen.

„Als seien da Picassos geschmeidige Rundungen jener Jahre kollidiert mit Le Corbusiers Formübungen oder die Lamellen und Jalousetten des Bauhauses mit einer Vorahnung von Wilhelm Nays Nachkriegs-Scheiben. Endlich werden die Opiate im Leib des Morphium- und Schlafmittelsüchtigen ihren tribut gefordert haben – und geleistet.“

Wer hat Kirchners späte Malerei schon so treffend auf den Punkt gebracht. Wer hat geahnt, dass es die Opiumsucht war, die konträre Formen und Malstile aufeinander prallen ließen?

Jetzt wissen wir es.

22. 4. 2010

Die Kölner haben es wieder geschafft. Nachdem der dortige Kunstmarkt art cologne erst durch sein Wachstum ins Überdimensionale schwach geworden war und nachdem wichtige Galerien zum art forum Berlin abgewandert waren, hat er sich wieder gefangen. Alte Galerien sind nach Köln zurückgekommenm neue, auch junge und internationale, haben sich hinzugesellt. Kurz, der Kölner Kunstmarkt (jetzt die 44. Folge) hat wieder Boden unter den Füßen und kann wieder auf die Zukunft setzen. Hier einige Studien von Kunstbetrachtern auf der Messe:

Betrachtung 1 Betrachtung 2 Betrachtung 3 Betrachtung 4

Es ist schon kurios, zu sehen, dass Galerien wie Gmyrek (Düsseldorf), die vor 30 Jahren mit der wilden Malerei gegen die Etablierten antrat, jetzt auf der unteren ebene, der Klassik, angesiedelt ist. Und wenn man nach einer Tendenz Ausschau halten will, dann findet man sie am ehesten im Bereich der schon durchgesetzten Kunst, in der es immer wieder qualitätvolle Entwicklungen zu entdecken gibt.

Der Kunstmarkt erscheint wie eine große Hommage an Günther Uecker, der dieses Jahr 80 wird und der vorführt, dass er auch jenseits des Nagels kraftvolle Ausdrucksmittel hat – etwa in den Tropfen- oder Regenbildern, die eine Variante zu Pollocks Dropping-Bildern darstellen. Wer offenen Auges durch die Galerie-Stände geht, kann eine kleine Uecker-Retrospektive erleben. Siehe Fotos unten. Die beiden mittleren Aufnahmen werden hier mit freundlicher Genehmigung der Düsseldorfer Galerie Schwarzer veröffentlicht.

Uecker 1 Uecker 3 Uecker 4 Uecker 5 (Regenbilder)

Erstaunlich auch, wie es Heinz Macks Suche nach dem Licht im Bild ihn zu phantstisch leuchtenden Farbkompositionen auf der Leinwand führt. Diese Malerei wirkt stark und frisch.

Die Malerei ist überhaupt sehr stark vertreten, nicht nur bei den älteren Künstlern und Klassikern. Auch die Jüngeren haben viel zu erzählen und dabei über die Fotografie zur Leinwand zurückgefunden.

Der Struktur nach soll auf der oberen Ebene die experimentelle Kunst zu finden sein. Der Kernbereich, der als Open Space gestaltet ist, wirkt auch offener und erscheint ein wenig wie ein Labor, doch es entsteht nicht so viel Strahlkraft, wie man erhofft hat. Schon gar nicht ist von einer neuen Kunst zu reden.

27. 3. 2010

Mehr und mehr verdrängt in der FAZ die Poesie die nüchterne Kunstkritik. Mochte man bislang Patrick Bahners (siehe Fundstücke 1 und 2 zu Gerhard Richter und Stefan Balkenhof) auf diesem Felde als einsamen Vorkämpfer sehen, hat er nun Verstärkung bekommen. Unerschrocken trat ihm in der FAZ vom 26. 3. Dieter Bartetzko zur Seite. In seinem Text über das Augustinermuseum („Beton, Hoffnung der Gotik“) hätten eigentlich gleich mehrere Sätze in Versform gedruckt, besser: in Stein gehauen werden müssen

Etwa:

Sie wachen
vor einer Versammlung
der nichts fremder ist
als die Lauheit unseres Alltags:

Als Propheten und Seherinnen
erschütternd schon
durch schiere Größe
verbreiten
fünf Schritt weiter
Dutzende gotischer Skulpturen
Ewigkeit.

Oder:

Der lebhafte Rhythmuswechsel
der dreieckig
vor- und rückspringenden Oberflächen
aus eingefärbtem
rauh scharriertem Beton
verstärkt die Wirkung
der straffen Proportionen.

Wie hier klingt auch
im tiefen samtigen Blau der Seitenschiffe
und der inszenatorisch
perfekten Lichteffekte
Hans Poelzigs
Expressionismus an.

Aber fast noch wichtiger sind Bartetzkos inhaltliche Offenbarungen. Wer hätte schon jemals so gekonnt in wenigen Worten die zweifelhafte Rolle der Maria Magdalena auf den Punkt gebracht?

Eine Magdalena
in fließender Seide und Brokat (1240)
hält ihr Salbgefäß
so königlich und bescheiden
dass diese eine Geste
die gesamte verwickelte Geschichte
der reichen Kurtisane
die zur duldenden
Weggefährtin wird
zusammenfasst.

Schließlich aber rührt Bartetzko an eine Frage, an die sich die gesamte Kunstgeschichtsschreibung bei der Ausdeutung der religösen Kunst bisher nicht rangetraut hat. Denn Bartetzko ist der erste, der angesichts der aktuellen Missbrauchsdiekussion den Mut aufbringt, Jesus und Johannes auf den Boden des kirchlichen Alltags zurückzuholen und zu fragen, wer wann was von der Homophobie wusste. Denn da schreibt er sehr prosaisch:

„Eine zeitgleiche Zweiergruppe mit einem jugendlichen ernsten Jesus, dessen Linke fürsorglich die Schulter des jungen Evangelisten Johannesbstützt, der vertrauensvoll wie ein Kind oder Liebender an der Brust des Messias lehnt, weiß nichts von Homophobie.“

Weiß diese Zweiergruppe wirklich nichts davon? Es ist sehr zu hoffen, dass Bartetzko sehr bald diese These näher erläutert.

22. 3. 2010

Der Kasseler Kunstverein feiert Geburtstag. 175 Jahre wird er alt. Eine stolze Leistung.

Aber hat der Kasseler Kunstverein auch eine Zukunft? Selbstkritisch sollte in einer Podiumsdiskussion aus Anlass des Geburtstages untersucht werden, ob man „Kunstvereine neu denken“ müsse. Zieht man eine Bilanz der Wortbeiträge von Bernhard Balkenhol (Kasseler Kunstverein), Holger Kube Ventura (Frankfurter Kunstverein), Elke Gruhn (Nassauischer Kunstverein, Wiesbaden) und Moderatorin Beate Anspach (Hamburger Kunstverein), dann kann es durchaus heißen „weiter so“. Beurteilt man aber die Veranstaltung aus dem Blickwinkel der Mitglieder sowie interessierten Öffentlichkeit, dann kann man nur umgehend fordern, den Kunstverein neu zu denken. Denn wenn aus einem solchen Anlass eine derartige Grundsatzdiskussion angesetzt wird, aber nur zwei Dutzend Besucher (Vorstandsmitglieder und Journarlisten mit eingerechnet) kommen, dann kann die Welt nicht in Ordnung sein. Weder war das kulturell engagierte bürgerliche Lager vertreten, das lange Jahre die verlässliche Basis bildete, noch die junge Generation, die aus der Kunsthochschule in die Öffentlichkeit drängt, noch die Gruppe der sich immer wieder beschwerdenden Künstler (aus dem Umkreis des BBK).

Das muss als Warnsignal verstanden werden, dass weder in der Mitgliedschaft noch in der Öffentlichkeit die Frage nach der Zukunft des Kunstvereins als wichtig erachtet wurde.

Die wohl wichtigste Aussage an diesem Abend machte Holger Kube Ventura: Gefragt, wie sich der Frankfurter Kunstverein gegenüber der Ausstellungs-Konkurrenz in der Main-Metropole abgrenze, machte er klar, dass sich für ihn die Konkurrenzfrage gar nicht stelle, da der Kunstverein eine ganz andere Basis habe: Er sei keine öffentlich organisierte Institution, sondern ein breit angelegter Verein, für den entscheidend sei, dass er vom Wir-Gefühl geprägt werde. Alle Aktivitäten und Programme würden aus der gemeinsamen Verantwortung von Mitgliedern und Vorstand entwickelt – selbst wenn der Direktor der hauptamtliche Kurator ist.

Überraschend war auch, dass sowohl in Frankfurt als auch in Wiesbaden begleitende Veranstaltungen vermehrt die Ausstellungen ergänzen und damit die Kunstvereine zu anderen Gruppen öffnen.

Und schließlich klang spannend (und vorbildhaft), dass in Wiesbaden neben internationalen Künstlern immer auch regionale Künstler ein Forum erhalten. Durch die Kombination von regionaler Szene und internationaler Auswahl wird der Nassauische Kunstverein seiner ursprünglichen Aufgabe gerecht (er wird geerdet) und außerdem wird eine Spannung aufgebaut.

1. 3. 2010/27. 3. 2010

Markus Müller, Pressesprecher der documenta 13, ist mit dem Begriff Motto nicht ganz einverstanden. Gewiss, Carolyn Christov-Bakargiev sprach in ihrem Vortrag von „title“. Aber den Satz „Der Tanz war frenetisch…“ als Titel zu bezeichnen, erscheint etwas kühn.Vielleicht träfe das Wort Leitmotiv besser.

Aber vielleicht braucht man sich gar nicht weitere Gedanken zu machen, da Markus Müller nicht ausschließen will, dass das Zitat, dessen Quelle im Moment nicht bekannt ist, schon morgen für die documenta-Leiterin nicht mehr bindend ist. Dagegen spricht, dass Carolyn Christov-Bakargiev am 17. 2. ihren Vortrag an der Nehru University mit dem Zitat „The dance was very frenetic…“ titelte.

Die documenta-Leitung beharrt darauf, dass der Satz „The dance was very frenetic… – Der Tanz war sehr frenetisch…“ der aktuelle Titel der documenta 13 sei und nicht etwa ein Motto – auch wenn das nur eine vorläufige Festlegung sei.

Also gut: der Titel. Allerdings kann es nur der Untertitel sein, denn die Ausstellung hat nun mal den Titel documenta 13 – oder in der neuen Schreibweise dOCUMENTA (13).

28. 2. 2010

Die documenta 13 hat ein Motto. In einem Vortrag im Rahmen der CCA Graduate Studies Lecture Series, CCA, in San Francisco hat Carolyn Christov-Bakargiev den Titel ihrer für 2012 geplanten Ausstellung bekannt gegeben: „Der Tanz war sehr frenetisch, aufbrüllend, gerasselt, klingelnd, verdreht, rollend und dauerte (für) lange Zeit“.

In ihrem in englischer Sprache gehaltenen Vortrag (http://www.youtube.com/watch?v=kzm-4-1pN_U) blendete sie auf der Leinwand dieses Motto (Zitat) in deutscher Sprache ein.

Was wissen wir damit über die kommende documenta? Inhaltlich nichts. Aber atmosphärisch sehr viel. Zum einen lässt dieses Motto erkennen, dass Carolyn Christov-Bakargiev ähnlich wie Rudi Fuchs aus einer poetischen, erzählerisch-bildhaften Haltung an ihre Ausstellung herangeht. Zum anderen spricht daraus, dass die documenta-Leiterin jenseits von Betrachtung und Belehrung das alle Sinne aufrührende Ausstellungserlebnis sucht, die Überwältigung und die Lust an Bildern und Sprache.

Rothenberg Waschhaus Rothenberg Stahlhäuser

An den Anfang ihres Vortrages stellte sie ein Bild der beispielhaften Stahlhäuser in der Kasseler Rothenberg-Siedlung und drei Fragen:
1) Wo sind wir?
2) Wo kommen wir her?
3) Wöhin mögen wir unterwegs sein und warum?.

Diese Fragen sind für ihre kuratorische Arbeit in Kassel wichtig und für den Vortrag selbst, in dem sie im Schnelldurchgang die documenta-Geschichte aufblätterte und in dem sie zuvor ihre Zuhörer mit der Nachkriegssituation der total zerstörten Stadt, die für die Rüstungsindustrie der Nazis von höchster Bedeutung war, vertraut machte. Es zeigt sich, dass je länger der Krieg und die Nazi-Zeit zurückliegen, desto intensiver und nachdrücklicher gehen die documenta-Leiter(innen) darauf ein. Den Anfang hatte übrigens Catherine David gemacht.

Interessant war der Hinweis, dass in der documenta 1955 die Italiener deshalb so stark vertreten gewesen seien, weil Bodes Mitstreiter Werner Haftmann damals in Venedig gelebt habe. Allerdings war mit 28 von 148 Künstlern der Anteil der Italiener nicht so hoch, wie der Vortrag nahezulegen schien. Im Zusammenhang mit den ersten documenta-Ausstellungen brachte Carolyn Christov-Bakargiev auch wieder die Unterstellung ins Spiel, die documenta der Anfangsjahre, inbesondere von 1959, sei ein kultureller Arm des CIA gewesen.

Bei der Ableitung des Namens documenta aus dem Lateinischen legte Carolyn Christov-Bakargiev das englische Wort teaching (be-lehren) nahe. Doch ursprünglich ging es bei der Wortwahl um das Dokumentieren, um das Aufzeigen dessen, was ist.

II. documenta

Bemerkenswert an dem Vortrag war, dass die Kuratorin, wenn sie über einzelne Bilder oder eine documenta sprach, immer den Bezug zu den parallelen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen herstellte. Sehr ausführlich ging sie auf das Foto von der documenta 1959 ein, mit dem sie sich schon in Turin beschäftigt hatte (siehe auch: 17. 2. 2010).

Das Denken, das in der Kunst zwischen Zentrum und Peripherie unterscheidet, hält die documenta-Leiterin für überholt. Am Beispiel eines Performance-Künstler aus Singapur, der nach London geht, um dann mit seinen europäischen Erfahrungen in seine Heimat zurückzukehren, erläuterte sie, wie sich die Relationen verschoben haben.

Carolyn Christov-Bakargiev wehrt sich gegen die Ansicht, sie wähle für ihre Ausstellung aus. Vielleicht hängt diese Abwehr mit dem politisch vorbelasteten Begriff selektieren/Selektion zusammen. Nein, sie wähle nicht aus, sondern bringe Menschen und Objekte zusammen. Die Arbeit an dem Projekt documenta ist für sie ein Prozess, an dem viele beteiligt sind – Kuratoren, Denker und selbst Verwandte wie ihre Tochter.

27. 2. 2010

Zur Erinnerung: Am Sonntag, 28. 2., ist um 15 Uhr in Bayern 2 das Hörspiel „Auressio“ zu hören, das die Künstlerin Ingeborg Lüscher und Peter Moritz Pickshaus auf der Grundlage von Gesprächsprotokollen geschrieben haben und das Nikolai von Koslowski als Regisseur produziert hat.

In dem Hörstück geht es um jenen Eigenbrötler Armand Schulthess (A.S.), der das Wissen der Welt auf Stichwörter reduziert und auf Tafeln in seinem Wald präsentiert hatte. Ingeborg Lüscher hatte den Eigenbrötler aufgespürt. Erst wollte der Mann die Künstlerin mit Steinen vertreiben, schließlich ließ er sie ein. Ingeborg Lüscher hatte die Dokumentation der Welt des A.S. Harald Szeemann bei einem Besuch in Kassel gezeigt, der dann die Arbeit in die documenta 5 aufnahm. Lüscher und Szeemann hatten sich bei der Gelegenheit verliebt und waren ein Paar geworden. Die Dokumentation übernahm Szeemann schließlich in sein Projekt „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Schulthess übrigend starb noch in dem documenta-Jahr 1972.

Nun also wird die Geschichte wiederbelebt und akustisch vorgetragen. Das ungleiche Paar des verrückten Einsiedlers Schulthess und der jungen Künstlerin Ingeborg Lüscher spielen Franz Rueb und Katja Bürkle.

17. 2. 2010

Carolyn Christov-Bakargiev Im Dezember 2008 ist Carolyn Christov-Bakargiev zur künstlerischen Leiterin der documenta 13 berufen worden. Am 9. 6. 2012 soll diese documenta eröffnet werden. Das heißt: Ein Drittel der Vorbereitungszeit ist um.

Was wissen wir von der kommenden Ausstellung? Wie zu erwarten war, lässt sich die künstlerische Leiterin ebensowenig in ihre Karten schauen, wie es ihre Vorgänger hielten. Gleichwohl gibt Carolyn Christov-Bakargiev immer wieder Hinweise, die erkennen lassen, in welcher Richtung sie denkt und empfindet und welche Künstler ihr wichtig sind.

II. documenta

So hatte sie im Zusammenhang mit der documenta-Tagung im Castello di Rivoli ein Foto von 1959 reproduzieren lassen, das äußerst beiläufig und zufällig schien, das aber den sinnlichen Zugang der documenta-Leiterin zur Kunst bezeugte. Das Foto zeigt eine Frau und einen Mann, die gegenläufig durch den Raum gehen, in dem kleine Plastiken von Julio Gonzalez zu sehen sind. Während die Frau auf die Kunstwerke schaut, wenden sich die Augen des Mannes offenbar den Beinen der Frau zu, denn sie geht mit nackten Füßen durch die Ausstellung.

Jetzt hat man die Möglichkeit, ein paar bemerkenswerte Hörstücke zu hören beziehungsweise Videos zu sehen, die Carolyn Christov-Bakargiev ausgesucht hat. Die Liste der zehn Filme und Hörstücke hat die documenta-Leiterin für www.ubuweb.com zusammengestellt. Ubu Web ist ein Dienst, der nicht kommerziell arbeitet und es sich zum Grundsatz gemacht hat, konkrete Poesie, Avantgarde-Texte und Klangstücke sowie Künstler-Videos zugänglich zu machen – ganz gleich, ob das Einverständnis der Urheber vorliegt oder nicht. Seit September 2006 wird jeden Monat ein Gast aufgefordert, seine Empfehlungen für hörens- und sehenswerte Werke zusammenzustellen. Für Januar 2010 war Carolyn Christov-Bakargiev eingeladen. Hier ist ihre Liste (die Links dazu sind bei www.ubuweb.com oder unter www.documenta.de zu Finden):

Featured Resources:
January 2010
Selected by Carolyn Christov-Bakargiev (http://www.ubu.com/resources/feature.html)

1. [listen] Gertrude Stein – If I Told Him: A Completed Portrait of Picasso (1934-35) (Stein page on Ubu)
2. Paul Chan – Untitled Video on Lynne Stewart and Her Conviction, The Law, and Poetry (2006)
3. Maya Deren – A Study in Choreography for Camera (1945)
4. [listen] Forough Farrokhzad – Radio Tehran Sessions (1962-1964) (Farrokhzad page on Ubu)
5. [listen] Canada Inuit Games and Songs – Katajjaq (Inuit page on Ubu)
6. [listen] John Cage – Mushroom Haiku, excerpt from Silence (1972/69) (from The Dial-A-Poem Poets LP)
7. Dara Birnbaum – from „Damnation of Faust Trilogy“ (1983)
8. Tacita Dean – Kodak (2006)
9. Dan Graham – Performer/Audience/Mirror (1975)
10. Jacques Lacan – Télévision

Über www.documenta.de hat man übrigens auch Zugang zu allen Video-Aufzeichnungen von der documenta-Konferenz im Castello di Rivoli. Außerdem findet man dort einen Blog zu den Unruhen im Iran nach den jüngsten Wahlen.

16. 2. 2010

In dem Jahr, in dem ihn der Tod ereilte, bot Arnold Bode (1900 – 1977) noch einmal seine ganze Kraft, Energie und Kennerschaft auf, um den Traum, den er seit Jahren träumte, in die Wirklichkeit umsetzen – zu einer documenta eine Ausstellung im Oktogonschloss unter dem Herkules zu realisieren. Für sein Oktogon-Projekt hatte Bode eine Künstlerliste aufgestellt, er hatte die Finanzierung durchgerechnet, er sah das Ziel vor Augen, musste dann aber doch kapitulieren.

Vor allem fehlte das Geld. Aber selbst wenn er das Geld zusammenbekommen hätte, hätten die Schwierigkeiten erst richtig begonnen, denn diese Kunstschau wäre eine Neben- oder Gegen-documenta geworden, weil sie nicht aus dem Team von Manfred Schneckenburger vorbereitet worden wäre, sondern von dem nahezu ausgebooteten documenta-Gründer. Außerdem hätte noch sorgfältig geprüft werden müssen, ob das Oktogonschloss in dem damaligen Zustand überhaupt für die Öffentlichkeit freigegeben worden wäre.

Oktogon 1 Oktogon 2 Oktogon 3 Oktogon 4

Trotzdem bleibt die Tatsache, dass das Oktogon für eine documenta ein faszinierendes Gebäude wäre. Schon im Sommer 1959 hatte Bode in einem Text für die Stadt mit Blick auf eine dritte documenta geschrieben: „…. Die Plastik aber fände ihren Platz in dem grandiosen, mehrstöckigen Gewölbebau des Oktogon. Dieser phantastische Bau mit seinen zyklopischen Mauern, mit den überhohen Gewölben, seiner verwinkelten Umgänge, mit dem bestürzenden Schacht seines Inneren, den überwölbten Terrassenm den offenen Bögen nach innen und außen, dem Blick auf die dunklen Mauermassen wie auf die helle Landschaft böte eine Raumsituation, wie sie für die zeitgenössische LPlastik erregender nicht zu finden wäre….“

Diese Vision wartet bis heute auf ihre Umsetzung. Eine documenta oder vergleichbare Schau im Oktogon – unter dem Herkules und mit Blick auf das Tal, in dem Kassel liegt, wäre die Krönung.

Prof. Heiner Georgsdorf, Schüler und Mitarbeiter Bodes, später Lehrer an der Kunsthochschule Kassel und Vorsitzender des Kasseler Kunstvereins, hatte für die Kandidatur Kassels als Kulturhauptstadt (2010) Bodes Vision aufgegriffen und einen konkreten Ausstellungsvorschlag ins Gespräch gebracht. Mit dem Scheitern der Bewerbung starb vorerst auch der Plan.

Jetzt hat Georgsdorf das Oktogon erneut als Ausstellungsort ins Gespräch gebracht. In einem Brief an Kassels Oberbürgermeister Bertram Hilgen, der jetzt auch Kulturdezernent ist, regt er an, zum Stadtjubiläum im Jahre 2013 eine Oktogon-Ausstellung zu planen – etwa mit Daniel Birnbaum als Kurator.

Die Vorausstezungen sind jetzt insofern günstiger als früher, als derzeit das Herkulesbauwerk saniert wird und das Oktogon für die Öffentlichkeit geöffnet werden soll. Es könnte also gelingen.

Auch wenn documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev für ihre eigene Ausstellung das Oktogon nicht ins Kalkül ziehen wollte, könnte man wetten, dass dann, wenn erst einmal das Oktogon Ausstellungsplatz war, dieser Ort immer wieder belegt wird.

13. 2. 2010

Es ist schon lustig, zu sehen, wer sich alles auf die documenta bezieht oder sich gar mit ihr vergleicht. Jetzt übernahm Bild in Frankfurt eine dpa-Meldung über die Jahresausstellung an der Städelschule, in der bis Sonntag Abend 180 Studenten ihre Arbeiten zeigen.

Wenn man von der Ausstellung als einem dreitägigen Spektakel in der Städelschule liest, kann man von der Qualität des Berichtes nicht viel erwarten. Der Autor allerdings legt mit Hilfe eines Zitats von Städelschul-Direktor Daniel Birnbaum die Messlatte sehr hoch. Denn demnach hat Birnbaum mit Blick auf die 180 Teilnehmer gesagt: „Wir sind damit ein bisschen größer als die Documenta und so die größte Ausstellung in Hessen“. Ernst kann das Birnbaum nicht gemeint haben. Oder?

Man will nicht recht glauben, dass der Mann, der im vorigen Jahr Vendigs Biennale verantwortet hat, auf die Magie der Größe setzt. Da braucht er nur zu warten, bis am Ende des Sommersemesters die Kunsthochschule Kassel ihren „Rundgang“ (Semesterschluss-Ausstellung) macht, die mindestens ebenso viele Teilnehmer wie jetzt Frankfurt hat. Nur dort käme niemand auf die Idee, aufgrund der Zahl sich mit der documenta zu vergleichen.

12. 12. 2010

Eine eindrucksvolle Veranstaltung des Landes Hessen im Kasseler Opernhaus-Foyer zur Welterbe-Anmeldung des Bergparks Wilhelmshöhe mit Herkules und Wasserspielen. Insbesondere die Vorträge zur Wassertechnik und zum Bau der Herkules-Figur aus Kupferblech enthielten zahlreiche neue Details.

Herkules Bergpark Oldenburgs Spitzhacke

Unterstützt wurde die Veranstaltung durch den Runden Tisch der Kulturgesellschaften und vornehmlich durch die „Bürger für das Welterbe“. Die „Bürger für das Welterbe“ hatten zu diesem Anlass eine kleine Broschüre herausgegeben, in der das Unesco-Welterbe (samt Antragsverfahren) beschrieben wird, die Besonderheiten des Bergparks im Sinne der Unesco erläutert werden und das Bürger-Engagement dokumentiert wird.

Sehr schön, möchte man sagen, doch dann stößt man auf ein Anzeichen einer alten Krankheit. Völlig zusammenhanglos und in der Sache unbegründet ist der letzte Beitrag betitelt: „Documenta alle fünf Jahre, Welterbe jeden Tag – Wir wollen Welterbe werden“. Was soll dieser Versuch, die eine Sache gegen die andere auszuspielen, zumal das eine mit dem anderen nichts zu hat? Können es die Autoren nicht verkraften, wie es einmal in der Expertenkommission zum Welterbe hieß, dass die documenta schon eine Weltmarke ist, der Bergpark es erst noch werden will? Warum will man auf diese Weise die Freunde der documenta ausgrenzen, die sich eigentlich für den Bergpark als Welterbe einsetzen und die mit Vergügen an die Spitzhacke von Claes Oldenburg an der Fulda denken, die nach Darstellung des Künstlers Herkules dorthin geschleudert haben könnte? Außerdem ist aus Kasseler Sicht documenta ein Dauerprojekt und nicht bloß ein Ereignis, das alle fünf Jahre stattfindet.

11. 2. 2010

Je länger die documenta 12 zurückliegt, desto klarer wird, wie wichtig zu diesem Zeitpunkt die Teilnahme des chinesischen Konzept-Künstlers Ai Weiwei war. Vor allem der Teil seines Projektes „Fairytale“, durch den während der documenta 1001 Chinesen für jeweils eine Woche nach Kassel kommen konnten, war nicht nur künstlerisch faszinierend, sondern vor dem Hintergrund der Diskussion über Menschen- und Freiheitsrechte in China äußerst brennend. In den am Ende der documenta gezeigten Filmen über die Vorbereitung des Projektes wurde sichtbar, dass in vielen Fällen der erfolgreiche Kampf um die Ausreisegenehmigung mehr wog als die Reise selbst.

Durch seine documenta-Teilnahme wurde Ai Weiwei nicht bloß ein Star am europäisch-amerikanischen Kunsthimmel, sondern sicherte der Künstler in der chinesischen Öffentlichkeit eine Position, die nicht so leicht angreifbar ist. Zwar wurde Ai Weiwei im August 2009, als er am Prozess gegen den mit ihm befreundeten Bürgerrechtler Tan Zuoren teilnehmen wollte, von einem Polizisten so stark geschlagen, dass er sich in München wegen einer Gehirnblutung operieren lassen musste, auch wurden von den Behörden seine Internetseiten gesperrt, doch kann er (bisher) immer wieder öffentlich auftreten und seine Kritik am chinesischen System äußern.

Ai Weiwei Studenten in Kassel Fairytale Template

Nachdem jetzt Tan Zuoren zu fünf Jahren Haft verurteilt worden ist, sagte Ai Weiwei laut dpa: „Dieser Fall enthüllt, dass Diktatur und Autokratie unter den Bedingungen der Führung der Kommunistischen Partei eine tödliche Krankheit sind.“ Tan hatte – ähnlich wie Ai – dokumentieren wollen, dass bei dem Erdbenen im Mai 2008 mehr als die Hälfte der verstorbenen 5000 Schulkinder deshalb ums Leben kam, weil die Schulen so schlampig gebaut gewesen worden seien. Offiziell wurde Tan wegen seiner Berichte über die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahre 1989 verurteilt.

In einem heute erschienenen Artikel für das „Wall Street Journal“ beklagt Ai Weiwei, dass in China die Unterdrückung der Meinungsfreiheit (das Zensursystem) sich auf alle Bereiche der Medien ausgeweitet habe. Der Künstler und Menschenrechtler nimmt das als einen Beweis dafür, wie wenig Vertrauen die Führung in ihre eigene Ideologie und in die Kontrolle der Öffentlichkeit hat. In diesem Zusammenhang lobt Ai die Entscheidung von Google, sich nicht dem chinesischen Zensursystem zu unterwerfen, als ein deutliches Signal für die Chinesen und die Welt – die Unterdrückung der Meinungsfreiheit zur Kenntnis zu nehmen.

Ai Weiweis grundsätzliche Haltung und seine jüngsten Stellungnahmen auf der einen Seite und die Verurteilung von Tan Zuoren auf der anderen zeigen, wie notwendig es ist, die Entwicklung in China kritisch zu beobachten und zugleich die Bürgerrechtler zu unterstützen. Deshalb erscheint die Entscheidung, Ai Weiwei im Herbst in Kassel mit dem „Glas der Vernunft“ auszuzeichnen, als geradezu ideal und notwendig.

9. 2. 2010

Das derzeit originellste und kreativste Ausstellungsforum ist die Temporäre Kunsthalle, die in Berlin-Mitte am Rande des Platzes steht, auf dem in den nächsten Jahren das abgerissene Berliner Schloss annähernd wiederaufgebaut werden soll. Schon jetzt muss man bedauern, dass die Kunsthalle als Experimentierbühne nur bis zum Spätsommer als Bühne zur Verfügung stehen soll.

Es sind nicht unbedingt die besten oder schwergewichtigsten Ausstellungen, die in der Kunsthalle gezeigt werden, aber es sind die außergewöhnlichsten. Beispielsweise hatte die Konzeptkünstlerin Karin Sander vom 5. Dezember bis 10. Januar unter dem Titel „Zeigen“ in der Kunsthalle eine Ausstellung arrangiert, in der es nichts zu sehen, sondern nur per Audio-Guide etwas zu hören gab. Karin Sander hatte 566 in Berlin lebende Künstler um einen Audio-Beitrag von zwei Minuten Länge gebeten. Die einen erläuterten ihre Arbeitsweise und künstlerische Position (wie Klaus Staeck), die anderen produzierten Klangbilder (wie Julius).

Zeigen 1 Zeigen 2

Der Ertrag war nicht umwerfend, und in vielen Fällen war man dankbar, dass die Künstler normalerweise mit bildnerischen Mitteln arbeiten, weil sie im Audio-Bereich nicht überzeugen konnten. Dennoch war die Ausstellung ein aufregendes Erlebnis, wenn man die gesamte leere Halle und das Verhalten der Besucher im Blick hatte: Um den Besuchern eine Orientierung zu geben, war in Augenhöhe ein winziges Schriftband zu sehen, auf dem man, alphabetisch geordnet, die Namen der Künstler und die Codenummern ihrer Audio-Beiträge lesen konnte. Das hatte zur Folge, dass die Besucher ganz dicht vor die Wände traten, die Namen und Nummern suchten um dann konzentriert in sich hineinzuhören. Aus der Entfernung entstand so der Eindruck, als würden die Besucher auf den weißen Wänden unsichtbare Bilder studieren, als würden sie in dem Gehörten Bilder erkennen.

Jetzt wartet die Kunsthalle erneut mit einer Attraktion auf: Vom 5. 2. bis 14. 3. hat sie sich anlässlich der Berlinale dank des britischen Künstlers Phil Collins in ein Auto-Kino verwandelt. In der Halle stehen fünfzehn unterschiedliche Gebrauchtwagen, darunter auch ein Kleinbus, in die sich jeweils zwei Personen setzen dürfen und 50 bis 55 Minuten lang Filmklassiker oder Künstlerfilme betrachten können. Der Ton wird über die Autoradios in die Fahrzeuge übertragen, und vor Beginn des Programms wird man ausdrücklich dazu aufgefordert, die Lehne zurückzuklappen und es sich gemütlich zu machen. Zur Stärkung des Kinogefühls werden aus einem Lieferwagen heraus Getränke und Popcorn verkauft.

Auto-Kino 1 Auto-Kino 2 Auto-Kino 3 Auto-Kino 4 Film von Harun Farocki

Auch hier wird mit dem Raumgefühl gespielt: Man geht in die Kunsthalle, in der durch die Autos eigentlich eine Open-air-Atmosphäre entsteht. Doch dank der Halle verwandeln sich die Autos in kleine separate Logen oder Wohnzimmer.

Rund 100 Titel wurden für das hochkarätige Programm zusammengestellt, außerdem gibt es an zehn Abenden Spielfilme aus der deutschen Geschichte. Eine Erlebniswelt ganz eigener Art.

Wer ins Auto-Kino will, muss telefonisch Plätze reservieren: .

Der Eintritt ist frei!

3. 2. 2010

Bei Wikipedia wird Roger Buergel immer noch als Chefkurator des Miami Art Museums geführt. Doch seine Berufung dorthin hat er längst rückgängig gemacht. Einerseits brachte die Finanzkrise die hochgesteckten Ziele des im Aufbau befindlichen Museums ins Wanken, andererseits fürchtete der Leiter der documenta 12, dass von den Trägern des Museums nicht die Sammlung und das Museum wirklich wollten, das Buergel im Sinn hatte.

2.2. 2010

Hans-Kurt Boehlke ist tot. Er starb nur wenige Tage nach seinem 85. Geburtstag, den er, von seiner Krankheit gezeichnet, im Familienkreis beging.

Boehlke war von seinem Naturell her Arnold Bode verwandt. Er war kreativ und beim Verfolg seiner selbst gewählten Ziele konsequent und bis zur Eigensinnigkeit unerbittlich. Er schaffte Unmögliches. Sein größtes Projekt, das 1992 eröffnete Museum für Sepulkralkultur, setzte er ohne Auftrag und gegen viele Widerstände durch. Er erreichte nicht bloß, dass das Museum am Weinberg in Kassel verwirklicht wurde, sondern es gelang ihm auch, vorbei an den städtischen Einrichtungen und Staatlichen Museen seinem Sepulkralmuseum den Status einer bundesunmittelbaren Einrichtung zu verleihen und damit Bundesmittel zu sichern. Als Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal hatte er es gelernt, die richtigen Fäden in den Bundeseinrichtungen zu knüpfen.

Mit seinem Nachfolger in der Museumsleitung, Reiner Sörries, hatte Boehlke vor allem anfangs seine Schwierigkeiten – wie das so oft ist, wenn ein Vater sein Kind aus der Hand geben muss. Dabei gelang es Sörries, die Lücken im Sammlungsbestand dadurch zu überspielen, dass er ungewöhnliche Ausstellungen ins Haus holte und das Museum mit Leben erfüllte und sogar zu einem Kultort machte.

So passte es doppelt zu ihm, dass er Ende der 80er-Jahre zu einem Mitkämpfer Harry Kramers bei der Errichtung der Künstler-Nekropole wurde. Dabei ging es einerseits um die Formen der Bestattung und des Erinnerns und zum anderen um die Durchsetzung eines ungewöhnlichen künstlerischen Projektes. Beide, Boehlke und Kramer, waren am selben Tag im selben Jahr geboren, beide waren klein und durchsetzungsfähig. Nach dem Tod Kramers (1997) war Boehlke zum Sachverwalter des Künstlers, insbesondere in der Nekropole-Stiftung, geworden. Durch die Nekropolen-Künstler hatte Boehlke auch einen direkten Bezug zur documenta-Idee.

Zum Gedenken an Harry Kramer und Hans-Kurt Boehlke ein paar Bilder von der winterlichen Nekropole:
Blase Brummack Dossi Ulrichs

1. 2. 2010

Die „Basler Zeitung“ erinnert heute in einem Porträt der Künstlerin und Szeemann-Witwe Ingeborg Lüscher an deren künstlerische Anfänge, insbesondere an ihren Auftritt bei der documenta 5 (1972), an der sie mit einem Buch über den Einsiedler Armand Schulthess (A.S.) teilnahm und bei der sie ihren späteren zweiten Mann Harald Szeemann kennenlernte.

Ingeborg Lüscher lebte als Schauspielerin in Berlin, bevor sie mit ihrem ersten Mann, dem Farbpsychologen Max Lüscher 22jährig 1959 in die Schweiz kam. Als Künstlerin ist sie Autodidaktin. 1967 bezog sie in Tegna das ehemalige Atelier von Hans Arp und ließ sich in Locarno nieder.

Ihre erste große Arbeit war die Dokumentation (Monographie) des Lebens und Werkes von A.S., der in den Kastanienwäldern bei Auressio seine eigene Welt geschaffen hatte, indem er das Wissen der Welt – Glücks- und Unglücksfälle, chemische Prozesse und Weisheiten, Literatur und Kunst, Astrologie und Schwangerschaft usw. – zusammenzufassen versuchte und in Stichworten vornehmlich auf Blechtafeln schrieb und diese in die Bäume hängte.

Liest man das aktuelle Porträt, dann erscheint alles ganz einfach und geradlinig: Ingeborg Lüscher fuhr im Vorfeld der documenta 5 nach Kassel, zeigte Harald Szeemann ihren Ordner über A.S. und war damit in die Künstlerliste aufgenommen. Tatsächlich erscheint ihr Name auch in jeder Künstlerliste der documenta 5. Zieht man allerdings den orangeroten Ordner zu Rate, der 1972 als documenta-Katalog erschien, sucht man vergeblich in den Künstlerverzeichnissen nach dem Namen Ingeborg Lüscher. Auch wenn man von vorne nach hinten und von hinten nach vorne die Seiten zu den „Individuellen Mythologien“ durchblättert (für die laut „Basler Zeitung“ die Arbeit hervorragend geeignet gewesen sei), findet man weder einen Hinweis auf A.S. noch auf die junge Künstlerin.

Erst wenn man sorgfältig die Seiten zur Bildnerei der Geisteskranken durchgeht, stößt man auf „Die Informationstafeln A.S.“, wobei zu lesen ist, dass A.S. nur unter Vorbehalt als geistig Kranker (Schizophrener) eingestuft werde. Und der Hinweis auf die Entdeckerin und die Autorin (Ingeborg Lüscher: „Der größte Vogel kann nicht fliegen“, Dokumentation über A.S., Köln, 1972) ist nur in einer Klammer zu finden.

Harald Szeemann hat später öfters die Arbeiten von Ingeborg Lüscher als eigenständiges künstlerisches Werk in seine Gruppenausstellungen aufgenommen. Doch 1972 war diese Wertschätzung noch nicht zu erkennen.

Dabei passte Ingeborg Lüschers Dokumentation ganz genau zu dem, womit sich Szeemann mit besonderer Begeisterung beschäftigte. 1983 nahm er denn auch Armand Schulthess (der übrigens noch im documenta-Jahr 1972 starb) in sein Ausstellungsprojekt „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ auf. Aber auch da gibt es nur einen kleinen Literaturhinweis auf Ingeborg Lüscher.

Bayern 2 bringt am Sonntag, 28. 2. 2010, 15 Uhr, das Hörspiel „Auressio“ von Ingeborg Lüscher/Peter Moritz Pickshaus, das sich um den Einsiedler Armand Schulthess dreht.

31. 1. 2010

In meiner persönlichen Liste der schönsten Kataloge und Künstlerbücher gibt es einen neuen Star, der fasziniert, verblüfft und liebenswürdig frech ist. Es handelt sich um den 2009 in der Edizioni Periferia erschienenen Band von Urs Lüthi „Art is the better life“ (1824 S., 46 Euro), der zu der Ausstellungstournee Luzern, Hamburg, Meran, Verbania und Catania herausgegeben worden ist.

Das kleinformatige und dabei dicke Buch ist wie ein kirchliches Gesangbuch gestaltet: Schwarzer Einband, dezente Schrift auf dem Buchrücken, Dünndruckpapier und Goldschnitt. Äußerste Perfektion und gelungene Nachahmung lassen einen immer wieder ungläubig den Band durchblättern. Ein hervorragender Begleitband zu einer Retrospektive – mit Werkabbildungen, Austellungsfotos und eingestreuten Bildern von privaten Sichten. Der ganze Urs Lüthi, der auf der Suche nach den Bildern der Welt – so weit sie sich in seiner Gestalt spiegeln – auch vor den Grenzerfahrungen des Alterns und des Todes nicht Halt macht.

Katalogbuch Urs Lüthi Ist Urs Lüthi auf dem Weg zurück zum Glauben, oder erreicht sein ironisches Spiel nur einen weiteren Höhepunkt? Immerhin: So wie eine Retrospektive alle Aspekte eines künstlerischen Schaffens umfasst, so hält das Gesangbuch Lieder für alle Lebenssituationen zwischen Geburt, Tod und Erlösung bereit. Die Form, die anfangs wie ein Tabubruch, wie etwas Unerlaubtes erscheint, verleiht dem Auftritt des Künstlers eine neue Dimension – ganz gleich, ob sich für ihn darin eine Nähe zum Glauben manifestiert oder ob er nur eine Provokation suchte.

Lüthis Gesangbuch erobert für mich einen der ersten drei Plätze auf meiner Liste.

Die anderen beiden Kataloge?

Von Anfang an gehört für mich der 1969 erschienene Katalog „Kunst der Sechziger Jahre“ (Sammlung Ludwig) dazu, der damals vom Wallraf-Richartz Museum Köln herausgegeben wurde. Wolf Vostell hatte ihn gestaltet: Plexiglas- und transparenter Kunstsoff-Einband, weißes Dünndruckpapier, Packpapier mit Angaben zu den Künstlern und ihren Werken sowie eingeklebte Reproduktionen der Werke (unter Beachtung der maßstabsgetreuen Abbildung) und transparente Folien, auf die Fotos von den Künstlern gedruckt wurden.

Mein dritter Lieblingskatalog begleitete die Ausstellung „Die enthauptete Hand“ (1980 in Bonn, Wolfsburg, Groningen), die 100 Zeichnungen von Chia, Clemente, Cucchi und Paladino präsentierte: In einer Mappe findet man vier Zeichenblöcke mit den jeweils 25 Reproduktionen der Zeichnungen.

29. 1. 2010

Der aus Teheran stammende (Jahrgang 1976) und in Den Haag lebende Künstler Navid Nuur präsentiert bis 14. Februar in der Kunsthalle Fridericianum seine Ausstellung „The Value of Void“ (Der Wert der Leere), in der verschiedene Arbeiten mit sehr unterschiedlichen Ansätzen zu sehen sind. Jetzt war Nuur zu einem Gesprächsabend in der Kunsthalle zu Gast.

Nuur 5 Nuur 6 Unbestrittenes Zentrum der Kasseler Schau ist eine Overhead-Projektion („Vein of Venus II“): Auf der Projektionsplatte liegt ein farbiges Wassereis am Stiel, das durch die Strahlung einer Lampe zum allmählichen Schmelzen gebracht wird. Das Eiswasser wird von einem Aquarium aufgefangen. Unmittelbar dahinter steht ein Tiefkühlschrank mit dem Vorrat an weiteren Eisportionen. Auf eine riesige Leinwand im Nachbarsaal wird die wie ein Film wirkende Bilderfolge des langsamen Eiswasserstromes projiziert. Der Effekt ist unglaublich, denn man sieht die sich immer wieder ändernden Umrisse einer Figur, die aufgewühlt scheint und von Farbpartikeln durchströmt wird. Unwillkürlich denkt man an eine automatische Zeichnung oder Malerei. Die Kraft des Projektionsbildes steht im umgekehrten Verhältnis zu dem simplen Vorgang, der sichtbar gemacht wird.

Was man angesichts dieser Arbeit nur geahnt hatte, wurde nun im Gespräch mit Navid Nuur als Gewissheit vermittelt: Der Künstler ist ein Meister der Beobachtung und Wahrnehmung. Wie ein Minimalist versteht er es, kleinste Abläufe und Veränderungen so genau von der einen in die andere Wirklichkeitsebene zu übertragen, dass man die Ansicht, die Kunst habe im 20. Jahrhundert alle ihre Grenzen ausgetestet, verwerfen muss.

Noch ein Zweites hat Nuur gelehrt: Er ist ein großer Humorist, der durch Fotos, Videos und Performances die Kunst und ihre Bedingungen in Frage stellen, parodieren und erweitern kann. Dafür spricht einmal die Fotoserie, für die er Menschen vor einem Kunstwerk genau die Pose einnehmen ließ, die in dem Kunstwerk dargestellt ist, und zum anderen das Video, in dem er Instruktionen für den Aufbau einer Installation gab und immer wiederholte, dass dieses nur eine Gebrauchsanweisung sei, aber kein Werk.

Und schließlich führte Nuur vor, wie man eine Bilderflut beschwören kann, ohne sie wirklich zu zeigen: Ob er sprach oder jemand anderes – beständig klickte er auf seinem Notebook herum, öffnete Ordner und Seiten, ließ Bilder aufblitzen und genau so schnell wieder verschwinden. So wussten am Ende alle: Wir haben nur einen Bruchteil gesehen.